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Mörikestraße in Reutlingen: So sehen ideale Nachbarn aus

Sie finden, dass so eine gute Nachbarschaft aussieht: Ein Gespräch mit den Bewohnern der Mörikestraße über Hilfsbereitschaft, Toleranz und gedeihliches Miteinander.

Mimi Böckmann (Zweite von links) mit einigen ihrer netten Nachbarn aus der Mörikestraße.  FOTO: GLITZ
Mimi Böckmann (Zweite von links) mit einigen ihrer netten Nachbarn aus der Mörikestraße. Foto: Andrea Glitz
Mimi Böckmann (Zweite von links) mit einigen ihrer netten Nachbarn aus der Mörikestraße.
Foto: Andrea Glitz

REUTLINGEN. »Der böse Nachbar ist ein großes Unglück, doch der gute ein großer Schatz«, wusste schon der griechische Epiker Hesiod um 700 vor Christus.

Die oft klischeehaften Darstellungen des bösen Nachbarn belustigen zuverlässig. Allerdings nur, solange man nicht selber einen solchen hat – oder selbst dazu mutiert. Vielschichtig ist die Beziehung zu den Menschen über Maschendrahtzaun oder Gang – und oft emotional: Im Internet finden sich jede Menge Tipps »für legale Schikane« des Nachbarn. Pro Jahr enden fast eine halbe Million Nachbarschaftszwistigkeiten vor Gericht (siehe Artikel unten).

»Man könnte überall klingeln«

Doch zum Glück gibt es viele Beispiele für weitgehend reibungsloses Funktionieren dieser besonderen Sozialgemeinschaft. Und mehr als das. Eines davon belebt die Reutlinger Mörikestraße, explizit den Abschnitt, der gen Altstadt nur über einen kleinen Fußweg weitergeführt wird. Die so entstandene Sackgasse ist dem gedeihlichen Miteinander zweifelsohne zuträglich, sie bietet Spiel- und Begegnungsraum, wahrnehmbar auch beim Pressetermin auf Mimi Böckmanns »Schwätzlebank«: Immer wieder kommen Nachbarn hinzu und werden sogleich ins Gespräch integriert.

Wie sieht er denn nun aus, der perfekte Nachbar? Manfred Marquardt zeigt auf die anderen. Renate Trockel verbalisiert den Fingerzeig: »Nicht aufdringlich, hilfsbereit und aufmerksam.«

»Ich wünsche mir keine idealen Nachbarn, ich erlebe sie«, sagt auch Gisela Schieck, die auf einen Rollator angewiesen ist. Sie wird in die Kirche mitgenommen, und wenn die Betreuerin beim Einkauf mal nicht alles erledigen konnte, springen Nachbarn ein. Ein Ehepaar bringt ihr die Kleidung in die Reinigung, eine andere Frau geht zur Post.

Zeitung ’reinnehmen, die Kinder mittags mitversorgen, Katze füttern, jemanden in die Klinik fahren. Schnell wird im Gespräch klar: Gute Nachbarschaft ist eine Beziehung, die sich an zahllosen kleinen Details festmacht.

Im Lockdown bekam das nachbarliche Miteinander neue Wichtigkeit und neue Ausdrucksformen. So sangen die Bewohner beispielsweise abends um 19 Uhr vor dem Haus oder auf dem Balkon stehend miteinander.

Die Bereitschaft, dem anderen eine Sorge abzunehmen, ihm den Alltag leichter machen, scheint eine Kernvoraussetzung für gutnachbarschaftliche Beziehung. Mimi Böckmann beschreibt das Klima in der Mörikestraße so: »Man könnte überall klingeln.« Die Folge der Hilfsbereitschaft: Sympathie. »Man vermeidet nicht die Begegnung mit den Nachbarn, man freut sich, wenn man einem begegnet«, sagt Simon Spielhaupter.

»Wer ist krank, wer hatte einen Unfall?« Voraussetzung für Hilfsbereitschaft ist just das, was Bösmeinende wohl als Tratsch bezeichnen würden. Manfred Marquardt nennt es »wechselseitige Information«.

Wohlwollen wiederum erhöht Toleranz. »Wenn mein Mann Klavier spielt, machen die Nachbarn die Fenster auf«, berichtet Christel Marquardt. Sie selbst legt Wert darauf, dass eine Hälfte der Rasenfläche vor ihrer Wohnung im Erdgeschoss bis Juni nicht gemäht wird – wegen der Bienen. Die Nachbarn akzeptieren ihre »Blumenwiese«, die sich vom picobello kurz geschnittenen Restrasen zwischen den Wohnkomplexen deutlich abhebt.

Bei allen Lorbeeren für das Mörikestraßen-Miteinander legt Christel Marquardt Wert auf eine Feststellung: »Wir klüngeln nicht zusammen.« Großflächigeres Beisammensein beschränke sich in der Regel auf die Geburtstage der Bewohner. Da kommen die Nachbarn zusammen – ohne dass es einer Einladung bedarf.

Zwei Dutzend Parteien wohnen in den Häusern 18 bis 24 und den ungeraden Nummern 19 bis 23. Familien, Paare und Alleinstehende verschiedenster Altersgruppen, Eigentümer und Mieter, im Haus 18  viele Mitarbeiter der Theologischen Hochschule. Viele Bewohner der vier Häuser 18 bis 24 leben schon seit deren Errichtung dort: Das alte Kasinogelände der Franzosen wurde vor gut 20 Jahren bebaut. Das Bild zeigt altersmäßig nur einen Ausschnitt. Die jüngeren Bewohner sind zum Zeitpunkt des Fototermins in den Pfingstferien. »Wir verjüngen uns jährlich«, betont Manfred Marquardt.

Eine junge Familie wurde jüngst willkommen geheißen – unter anderem mit einem Gartenmarkt-Gutschein. Lob für die Neuen: »Sie haben sich überall vorgestellt und hatten sogar Gebäck dabei«, erwähnt Simon Spielhaupter.

Die positiven Erlebnisse scheinen keine Momentaufnahme. Manfred Marquardt lebt mit seiner Frau seit 2005 in der Straße. »Es gab nie ernsthaft Streit.« Auch nicht über einen der Hauptkonfliktpunkte in nachbarlichen Beziehungen: Lärm. Die Rücksichtnahme funktioniert. »Es ist relativ ruhig hier«, sagt Renate Trockel.

Mit Mimi Böckmann haben die Mörikestraßen-Bewohner quasi eine Expertin in Sachen gelingende Nachbarschaft unter sich. Sie ist Koordinatorin der von der evangelischen Kreuzkirchengemeinde ins Leben gerufenen Initiative »Lebenswert« im Ringelbachgebiet. Böckmann selbst sitzt gern abends auf ihrer Schwätzlebank, genießt ein Feierabendbier. Und bleibt nicht lang allein. (GEA)

 

SO GEHT’S WEITER

In der nächsten Folge der Familienserie geht es am Dienstag, 28. Juni, um das Thema erben. Was müssen Vererbende und Erbende beachten? Was kann vor dem Tod geregelt werden? Vorher erschienene Beiträge zum Nachlesen gibt es im Internet. (GEA) www.gea.de/familienzeit