REUTLINGEN. Helle Aufregung rings um die von Tauben besiedelten und seit Wochenbeginn für den Verkehr gesperrte Eisenbahnbrücke Unter den Linden: Seitdem eine Stuttgarter Spezialfirma in einem neuerlichen Anlauf versucht, die zwischen den Stahlstreben des Bauwerks beheimatete Vogelkolonie zu vergrämen, liegen bei Tierschützern die Nerven blank. Zumal die am Sonntag angelaufene Säuberungsaktion bereits Taubenleben gekostet haben soll. Dies jedenfalls legen Fotos nahe, die in den Sozialen Netzwerken kursieren und tote Taubenküken zeigen.
Vorwurf: Die Zwangsumsiedlung werde dilettantisch vollstreckt
Dilettantisch, so der Vorwurf, werde die Zwangsumsiedlung vollstreckt. Und noch dazu »hälinga«. Habe die Stadt es doch versäumt, das zuständige Veterinäramt beizeiten einzuschalten und über den Beginn der Operation zu informieren. Das, heißt es, sei ebenso gesetzeswidrig wie die billigende Inkaufnahme des Sterbens frisch geschlüpfter, völlig hilfloser Jungvögel, die ihrer brutpflegenden Eltern beraubt, dem sicheren Tode geweiht seien.
Zwar wird es seitens des Tierschutzes, unter anderem von der Initiative »Eine Stimme für Tauben«, ausdrücklich begrüßt, dass die Stadt Reutlingen auf dem Dach der GWG-eigenen Briefpost jüngst ein Taubenhaus nebst Voliere installiert hat. Die Art und Weise wie das Domizil nun mit Leben gefüllt wird, sei indes verwerflich und berge zudem die Gefahr des Scheiterns: weil Tauben standorttreue Tiere sind, die sich nicht ohne Weiteres »umtopfen« lassen. Sie mal eben einzufangen, ins Taubenhaus zu verfrachten und dortselbst bis auf Weiteres unter Verschluss zu halten – das sei nicht zielführend. Denn Tauben ließen sich nun mal keine neue Bleibe aufnötigen.

Alternative Unterschlupf-Angebote würden, wie in einschlägigen Internetforen nachzulesen, von diesen Tieren nur dann akzeptiert, wenn der Umzug auf Freiwilligkeit beruht oder wenn gezüchtete Lockvögel ihre wilden Artgenossen quasi zum Ortswechsel überreden. Was seine Zeit brauche: Gut und gerne ein Jahr könne es nämlich dauern, bis Stadttauben Bereitschaft zeigen, dauerhaft von A nach B überzusiedeln.
Dass man in Reutlingen derlei Details ignoriere und stattdessen mit Abwehrnetzen auf, so der Kommentar einer Vor-Ort-Beobachterin, »Vergrämung ohne Rücksicht auf Verluste« setze, empört die regionale Szene der Taubenfreunde in hohem Maße. Deshalb wurde zwischenzeitlich Kontakt mit »PETA Deutschland« und »Menschen für Tierrechte Baden-Württemberg« aufgenommen. Beide Organisationen seien in Text und Bild über die Vorgänge unter der Eisenbahnbrücke in Kenntnis gesetzt worden und hätten prompt Polizei und Veterinäramt alarmiert. Dem Vernehmen nach werde jetzt geprüft, ob rechtliche Schritte wegen »nicht tierschutzkonformer Vergrämungsmaßnahmen« gegen die Stadt Reutlingen eingeleitet werden.
Zwecks Eingewöhnung vorübergehend hinter Schloss und Riegel
Diese ist sich übrigens keiner Verfehlung bewusst und begegnet den Vorwürfen mit Gelassenheit. Ja, heißt es seitens der Kommune, es würden tatsächlich einige Tauben eingefangen, ins Briefpost-Domizil verbracht und dort zwecks Eingewöhnung vorübergehend hinter Schloss und Riegel gehalten – mit dem Ziel, das Taubenhaus so rasch wie möglich zu bevölkern und dortselbst eine »tierschutzgerechte Reduzierung der Population« durch Austausch von Eiern gegen Attrappen vornehmen zu können.
Eingesperrt würden die Tiere dort freilich nur so lange, bis die meisten von ihnen erstmalig gebrütet haben. Denn ab diesem Zeitpunkt gelte das Taubenhaus von seinen zwangseingewiesenen Bewohnern als akzeptiert. Und dann könnten die Tauben zum Besten aller – der Tiere und Menschen – wieder in Freiheit entlassen werden und weitere Artgenossen zum Einzug animieren.
Fachunternehmen bestätigt: Keine Jungvögel mehr vorhanden
Doch weshalb wurde das Veterinäramt außen vor gelassen? Hierzu heißt es: »Vor der ersten Maßnahme in Dezember haben wir das Veterinäramt angefragt. Von diesem haben wir zwar Tipps und Hinweise zum Umgang sowie zur Vergrämung erhalten, aber auch den Hinweis, dass wir als Stadt letztlich selbst verantwortlich sind. Daraufhin wurde die zertifizierte Vergrämungsfirma abermals instruiert, einen regelmäßigen Eiertausch durchzuführen, damit keine neuen Jungvögel oder bebrüteten Eier mehr in den Nestern vorhanden sind. Erst als das Fachunternehmen bestätigte, dass es keine Jungvögel mehr gibt, wurde die Netzanbringung ein zweites Mal veranlasst.« Also im Vertrauen auf gründliche Arbeit der Stuttgarter Vergrämungs-Spezialisten.
Brückensperrung noch bis Mitte kommender Woche
Dass jetzt allerdings trotzdem Fotografien von verendeten Taubenbabys kursieren – davon ist der Stadt nichts bekannt. Hier weiß man lediglich um die Aufnahme eines einzelnen Eis (nebst totem Embryo), das – ohne menschliches Zutun – »aus dem Nest gerollt und zu Boden gefallen ist«. Was, wie berichtet, in der Vergangenheit unter der Eisenbahnbrücke durchaus schon öfters vorkam: bedauerliche Unfälle, die der alles andere als brutfreundlichen Örtlichkeit geschuldet waren.
Während aktuell noch einige wenige Vögel unter der mit Netzen abgedichteten Eisenbahn-Brücke herumflattern und per Köderboxen eingefangen werden sollen, scheint es so, als neige sich der letzte Akt im Reutlinger Tauben-Drama seinem ultimativen Ende entgegen. Mit ungefähr 80.000 Euro schlägt er zu Buche. Die Sperrung der Brücke kann voraussichtlich Mitte kommender Woche aufgehoben werden. (GEA)