REUTLINGEN. Die Ratlosigkeit war am Ende groß. In mehreren Sitzungsunterbrechungen wurde versucht, zu einem Konsens zu kommen - doch am Ende stimmte die konservative Mehrheit des Gemeinderats mit Simmen von AfD, CDU, FDP, FWV und WiR gegen die einzelnen Punkte des Lärmaktionsplans. Oberbürgermeister Thomas Keck hatte schon während der Sitzung angekündigt, dass eine solche Entscheidung wohl rechtswidrig sei. Die Gegner des Lärmaktionsplans ließen sich davon indes nicht beeindrucken. »Ein Wirrwar wie in Reutlingen gibt es nirgends«, erklärte FDP-Stadtrat Hagen Kluck mit Blick auf die vielfach kritisierte Flickenteppich-Temporegelung mit 50, 40 oder 30 Stundenkilometern auf den Durchgangsstraßen im Stadtgebiet. »Lange hat der Gemeinderat dem zugestimmt. Aber heute ist Feierabend.« Keck kündigte an, vom Regierungspräsidium Tübingen überprüfen zu lassen, ob er in seiner Funktion als Oberbürgermeister Widerspruch gegen die Gemeinderatsentscheidung einlegen müsse. Wäre dies der Fall, wäre dies ein historisches Novum in der Stadtpolitik. Das Gremium müsste sich dann innerhalb von drei Wochen erneut mit dem Lärmaktionsplan beschäftigen.
Worum geht es?
Grundlage der Lärmaktionspläne ist die Umgebungslärmrichtlinie der Europäischen Union. Diese fordert dazu auf, mittels Berechnungen die Lärmbelastung der Bevölkerung zu erfassen und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen einzuleiten. 2007 wurde in Reutlingen der erste Lärmaktionsplan in Angriff genommen, der 2009 beschlossen wurde. Alle fünf Jahre ist dieser fortzuschreiben, sodass es in der aktuellen Diskussion um die dritte Fortschreibung des Lärmaktionsplans geht. Diese hätte nach Landesvorgaben bis zum 18. Juli 2024 durchgeführt sein müssen.
Welche Rolle spielt das Land?
Die Umgebungslärmrichtlinie der EU gibt keine Grenzwerte vor. Deshalb hat die baden-württembergische Landesregierung einen »Kooperationserlass-Lärmaktionsplanung« erlassen und legt darin klare Grenzwerte vor: Bei Werten von über 67 db (A) am Tage sowie von über 57 db (A) in der Nacht muss gehandelt werden, einen »Ermessensspielraum« gibt es bei Werten von 65 Dezibel am Tag und 55 in der Nacht. Allein: die Werte werden nur berechnet. Hier kommt als Berechnungsgrundlage das neue, europäische CNOSSOS-Verfahren zum tragen, dass es der Stadt Reutlingen schwer macht, wie Verkehrsplaner Gerhard Lude im Gemeinderat schilderte: »Durch das neue Berechnungsverfahren werden mehr Betroffene jeweils der Hauskante zugeordnet, die zur Straße hin orientiert ist.« Daraus würden sich dann höhere Werte ergeben.
Was möchte die Stadtverwaltung?
Um die von gesundheitsgefährdendem (Verkehrs-)Lärm Betroffenen zu schützen, soll es weitere Temporeduzierungen geben. Vor allem in den Bezirksgemeinden soll auf den Durchgangsstraßen Tempo 30 gelten, auch für die Bundesstraßen plant die Stadtverwaltung teilweise neue Temporeduzierungen. In den Bezirksgemeinderäten fielen die Planungen häufig durch - einheitlichere Regelungen wurden gewünscht, tagsüber teilweise Tempo 40 (etwa in Altenburg) oder Tempo 30 von Ortsschild zu Ortsschild, wie beispielsweise in Betzingen oder Sickenhausen. Wo es Ermessensspielraum gab, folgte die Stadtverwaltung in ihrer aktuellen Planung anschließend den Wünschen der jeweiligen Bezirksgemeinden.
Welche Kritik gab es im Gemeinderat?
Neben dem »Flickenteppich« aus verschiedenen Tempolimits, der aus den bisherigen Lärmaktionsplan-Fortschreibungen resultierte, gab es viele weitere Kritikpunkte. »Der Gesundheitsschutz ist ein hohes Gut, aber hier schießen wir über das Ziel hinaus«, monierte Stadtrat Georg Leitenberger (FWV). »Wir legen uns selbst Fesseln an.« Die Bürgerbefragung im Rahmen der dritten Fortschreibung des Lärmaktionsplans, bei der sich 70 Prozent für weitere Temporeduzierungen ausgesprochen hatten, würde ein »verzerrtes Bild« darstellen, da insgesamt nur 300 Menschen an der Befragung teilgenommen hatten. Zudem hätte Baden-Württemberg die Grenzwerte weiter verschärft als andere Bundesländer. »Die Ideologie ist unübersehbar«, kritisierte Leitenberger, der zudem monierte, dass Maßnahmen zum passiven Lärmschutz, wie etwa Spezialfenster oder Lärmschutzwände, nicht vorgesehen seien. »Schilder aufzustellen ist eben weitaus billiger«, kommentierte dies Leitenberger.
Für die WiR-Fraktion hinterfragte Marco Wolz die Grenzwerte an sich: Auch eine Unterhaltung zwischen zwei Personen mit einem Meter Abstand erreiche laut der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg 60 db (A). »Darf ich mich nun nach 22 Uhr nicht mehr unterhalten?«, fragte Wolz sarkastisch und befeuerte die Diskussion: »Was passiert, wenn wir den Kooperationsbeschluss ein Jahr aussetzen?« Regine Vohrer sprach für die FDP von einer »Hysterisierung« der Gesundheitsgefahren durch Lärm und richtete den Fokus auf die bei Tempo 30 vermeintlich gegängelten Autofahrer: »Jeder fährt durch Unterhausen und Honau und fasst sich dabei ans Hirn.« Dr. Gunnar Teucher (AfD) forderte, an neuralgischen Punkten echte Lärmmessungen anstatt der Berechnungen durchzuführen.
Welche Anträge gab es aus den Gemeinderatsfraktionen?
Keine Chance hatte ein Antrag der Fraktion Linke/Die Partei. Dieser hatte gefordert, auch auf den mehrspurigen Durchgangsstraßen rund um die Reutlinger Kernstadt Tempo 30 einzuführen. Die Lärmberechnungen zeigen hier zwar Handlungsbedarf, doch fürchtet die Stadtverwaltung dann eine Verlagerung des Verkehrs in die Oststadt. Der Antrag wurde mit 12:23 Stimmen abgelehnt. Die CDU indes beantragte, dass sich Reutlingen beim Bundesverkehrsministerium als »Modellstadt« bewerben solle, um durchgängig auf allen Durchgangsstraßen Tempo 40 einrichten zu können. Teilweise würde dies in den Bezirksgemeinden wieder einer Tempoerhöhung gleichkommen. Mit Stimmen von AfD, CDU, FDP, FWV und WiR wurde dieser Antrag bei einer Enthaltung von Stadtrat Kurt Gugel (FWV) und Gegenstimmen von Grünen, SPD und Linksfraktion angenommen. Gugel begründete seine Enthaltung anschließend damit, dass »zwei Herzen« ins einer Brust schlagen würden: Als Autofahrer sei er für Tempo 40 auf den Durchgangsstraßen, in »seiner« Bezirksgemeinde Betzingen sei der Wunsch nach Tempo 30 von Ortsschild zu Ortsschild aber groß.
Was wurde aus der Beschlussvorlage der Stadtverwaltung?
Die Planungen der Stadtverwaltung, auch die Kompromisse mit den Bezirksgemeinden, wurden allesamt von der Mehrheit aus AfD, CDU, FDP, FWV und WiR abgelehnt, außer dem Beschluss, auf den mehrspurigen Straßen in der Kernstadt keine Maßnahmen umzusetzen. Selbst die vermeintlich unumstrittene Ausweisung »ruhiger Gebiete«, etwa im Stadtgarten, auf dem Friedhof unter den Linden oder an der Echaz, wurde mit 18 Gegenstimmen abgelehnt.
Wie fielen die Reaktionen aus?
Oberbürgermeister Thomas Keck kündigte an, mit dem Regierungspräsidium zu klären, ob er gegen die Gemeinderatsentscheidung Widerspruch einlegen müsse, damit würde der OB den Gemeinderatsbeschluss aushebeln. Gabriele Janz (Grüne) kritisierte, dass mit dem CDU-Antrag »alle Abstimmungen mit den Bezirksgemeinden und alle Arbeit am Lärmaktionsplan mit einem Strich weggewischt« werden würden, der Antrag auch den Wünschen mehrerer Bezirksgemeinden nach einer Temporeduzierung zuwiederlaufen würde. Dies sei »eine Ohrfeige für alle, die sich am Lärmaktionsplan beteiligt« hätten. Für die SPD kritisierte Helmut Treutlein: »Es geht um die Gesundheit, nicht um die Bedürfnisse der Autofahrer.« Jaron Immer (Grüne) hatte vergeblich für die Pläne der Stadt geworben. Der Lärmaktionsplan würde »erhebliche Verbesserungen« für die Bürger mit sich bringen, zudem habe sich der Gemeinderat »an die Gesetze zu halten«. Eine Mehrheit sah dies am Ende anders. Gabriele Gaiser (CDU) sprach von einer »Frage der Kommunikation«, um den Lärmaktionsplan bis zu einer Entscheidung des Bundes über das beantragte Modellprojekt abzuwarten. Der Kooperationserlass sei für ihn als Stadtrat »nicht bindend« kommentierte Leitenberger und Vohrer hinterfragte die Rechtslage: »Wenn es Gesetz ist, braucht die Stadtverwaltung unsere Zustimmung nicht. Also warum sollte ich zustimmen?« (GEA)