REUTLINGEN. »Da ich 1940 geboren bin, liegt diese Zeit für mich sehr weit zurück!«, schreibt Karl Reicherter aus Mössingen-Öschingen an den Reutlinger General-Anzeiger. Fürs Leserforum zu den Bombardierungen seiner Heimatstadt Reutlingen vor 80 Jahren stellt er einen Bericht zur Verfügung, den er für seine Enkeltochter aufgeschrieben hat, »nachdem sie wissen wollte, was ich vom Krieg noch wisse«. Als er ungefähr vier Jahre alt war, litt er an einer Lungenkrankheit - »wohl Tuberkulose, infiziert durch entsprechende Milch« - und musste deshalb in der Tübinger Straße 62, wo die Familie damals gelebt hat, am offenen Fenster liegen. Wegen der Frischluft. »Da viele Ärzte bei den Soldaten mit im Krieg eingesetzt waren, war die medizinische Versorgung der Bevölkerung entsprechend schlecht«, berichtet er. Dennoch sei er auch mit Höhensonne behandelt worden.
Vom Glück, dass die Bombe nicht explodierte
Ziel der schweren Bombardierungen im Januar und März des letzten Kriegsjahres 1945 war die Bahnstrecke, erklärt er. Um Waffen- und Warentransport zu unterbrechen. »Da unser Haus in der Nähe der Bahnlinie stand, hat es auch uns getroffen. Sobald Flugzeuge auftauchten, heulten die Sirenen, und alles brachte sich in Sicherheit. Es gab im Stadtbereich einige Luftschutzbunker, der Rest aber floh in den Keller. Auch wir, also meine Mutter und ich, sowie zwei weitere Frauen, welche mit im Haus wohnten, suchten im Keller unseres Hauses Schutz.« Die Männer waren ja im Kriegseinsatz.
Tatsächlich fielen Bomben auch aufs Reicherter-Haus in der Tübinger Straße. »Die Einschläge werde ich wohl nie vergessen«, schreibt der Mann, der seit mehr als 40 Jahren in Mössingen lebt. »Die Frauen weinten, ich wohl ebenso.« Nach einiger Zeit versuchten sie, den Keller zu verlassen. Da das Haus brannte, war dies nur durch die Bäckerei möglich. Sein Vater war selbstständiger Bäckermeister, die Bäckerei ein aus Stein errichteter, späterer Anbau - »dadurch vor Feuer mehr geschützt. Ich weiß noch, dass die Wand zwischen Backstube und Wohnbereich zerstört war, und es dahinter lichterloh brannte«.
Im Fußboden der Bäckerei habe ein großes Loch von einer Bombe geklafft, erzählt der 84-Jährige. »Es waren wohl zwei Bomben, die unser Haus getroffen haben. Eine Brandbombe und eine weitere, von der das Loch im Fußboden der Bäckerei stammte.« Das entspricht der Strategie der 8. Luftflotte der US-Streitkräfte, die aus rund 180 Langstreckenbombern des Typs Boeing B17 »Flying Fortress« und B24 »Liberator« am 15. Januar 1945 etwa 1.400 Sprengbomben abwarfen, um die Häuser zu öffnen, und dazu an die 6.000 Brandbomben. Die Sprengbombe wurde später im Raum unter der Bäckerei in dort lagernden Kohlen gefunden. »Wenn diese explodiert wäre...« Der Keller, in dem sich der knapp Fünfjährige und seine Mutter in Sicherheit gebracht hatten, war nur durch eine Wand davon getrennt. Ihm wurde erzählt, jene Bombe habe beim Aufprall den Zünder verloren. »Es gäbe sonst mich, unsere Kinder und Enkel nicht. Vieles hätte einen anderen Lauf genommen.«
Bombenziel durch Industrieverlagerung
Vom Luftkrieg der alliierten Streitkräfte betroffen war Reutlingen ab 19. August 1940 insgesamt 365 mal. Die Stadt gehörte damit zu den zehn am meisten angegriffenen Kommunen im Gebiet des späteren Baden-Württemberg. Unter anderem weil dort gegen Kriegsende aus dem stark bombardieren Stuttgarter Raum immer mehr Rüstungsindustrie angesiedelt worden war. Mit dem Bau von Bunkern und Stollen war man jedoch in Verzug. (dia)
Menschenverachtende Behandlung von Deportierten gerügt
Noch etwas ist Karl Reicherter in Erinnerung geblieben: Als Bäcker war sein Vater nicht gleich zum Militärdienst eingezogen worden - »die Brotversorgung der Bevölkerung war ja auch wichtig« -, und musste stattdessen Dienst bei der Polizei leisten. »Einmal war er dabei, wo Juden in einen Zugwagen mussten, um abtransportiert zu werden.« Ein SS-Mann - das versieht er mit einem Fragezeichen - habe dabei eine Tür so zugeschlagen, dass er jemandem den Finger einklemmte. »Als mein Vater diesen Mann rügte, erhielt er als Antwort: ,Die leben sowieso nicht mehr lange.' Was mit den Juden alles geschah, war in der Bevölkerung kaum bekannt. Es sollte geheim bleiben, ist aber nach und nach doch durchgesickert!«

Weder »Gotteshilfe« noch Saustall sind sicher
Hildegard Holder hat damals in der Gustav-Werner-Straße gewohnt - »und saß mittendrin«, erzählte sie ihrer Tochter, die nun alles für den GEA aufgeschrieben hat. Die 94-jährige Mutter, genannt »Nissle«, die heute zusammen mit ihrem Bruder im DRK Seniorenzentrum in Oferdingen lebt, kann selbst nicht mehr schreiben. Was bislang in den Archiv- und Zeitzeugenberichten nicht erwähnt wurde: Nicht nur östlich des Bahnhofs seien Gebiete beschossen worden, sondern auch ihre Straße, erzählt sie ihrer Tochter Beate Holder-Kirst. Außer der Bruderhaus-Fabrik auch das »Haus Gotteshilfe«, also das Rettungshaus für Kinder und Jugendliche, sowie das Mutterhaus und das Verwaltungsgebäude. Insgesamt drei Menschen seien dort bei dem ersten schweren Angriff ums Leben gekommen: »Einer im Saustall, er hat immer gesagt, er geht nicht in den Keller. Er bleibe bei seinen Säuen, da sieht ihn niemand.« Ein weiterer sei auf der Treppe im Mutterhaus umgekommen. Wo sich das dritte Todesopfer befand, weiß sie nicht.
»In der Werner-Straße selber sind mindestens zehn Personen tödlich verunglückt, lauter Zivilisten. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft acht Personen. Weiter unten Richtung Westbahnhof gab es auch Tote, unter anderem eine Schulkameradin meiner Schwester. Alles, was zwischen Bahngleis und Straße gestanden ist, ist kaputtgeschossen worden. Die andere Seite nicht«, erinnert sich Hildegard Holder, die damals knapp 14 Jahre jung war. »Nur die Gotteshilfe ist kaputtgegangen.« Sie sei wieder aufgebaut worden, der Schweinestall und das Verwaltungsgebäude hingegen nicht.
Steine blockierten die Kellertür
Sehr viele Leute, berichtet die 94-Jährige ihrer Tochter, seien an jenem »fürchterlich kalten Tag« beim Fliegeralarm gar nicht in den Keller gegangen. »Die haben vom Haus aus die Flieger beobachtet, da war mein Bruder auch dabei, aber einer von denen hat sich ausgekannt und gesagt: ,Au!! Da ist ein Christbäumle! Das ist das Zeichen für einen Angriff. Nichts wie in den nächsten Keller!' Der nächste Keller, das waren wir.« Ihr Bruder meint heute, es seien annähernd 40 Menschen in dem Gewölbekeller gewesen. »Da muss eine Bombe runtersein, die hat bei uns im Haus die Ost-Außenwand weggerissen, auch die Veranda im vierten Stock.« Sie glaubt, dass diese Bombe in der Waschküche explodierte. »Ich muss da was gehört haben«, berichtet Hildegard Holder, »denn ich erinnere mich, dass ich mit dem Leben abgeschlossen habe und dachte, jetzt sterbe ich dann. Aber wir sind alle davongekommen.« Obwohl sie sich »wirklich Wand an Wand mit der Waschküche« befanden - »und die war vollkommen kaputt. Dass die Wand gehalten hat, ist heute noch ein Wunder.«

Die Steine von der weggebombten Wand blockierten die Kellertür. Gerade so weit konnten sie die öffnen, dass eine Person durchkam. So sind alle »gesund und wohlbehalten herausgekommen«. Hinter einem Bett, das Männer aus dem brennenden Dachgeschoss heruntertrugen, liefen Frauen her, um die auf die Holztreppe fallenden glimmenden Federn sogleich auszutreten. »Damit nichts passiert ist.«
Es habe geheißen, »alle Kinder auf zur Bruderhausgärtnerei«. Also lief die 14-Jährige los - fiel hin, weil alles voll Schutt war, konnte die Lerchenstraße nicht hoch, da auch dort ein Haus brannte. Über Nase und Mund hatten sie - »wie wir es gelernt hatten, wahrscheinlich wegen des Rauchs« - nasse Tücher umgebunden. Bei Minus 20 Grad seien die sofort steif gefroren. Schließlich jedoch habe sich bei Bekannten »wunderbarerweise« die ganze Familie eingefunden. Die Nacht verbrachten sie in einem Quartier in Betzingen, das ihnen ein Nachbar organisiert hatte.
Auszeit auf der Alb
»Am nächsten Tag kam der Vorstand vom Bruderhaus in Buttenhausen runter mit dem Auto und hat zu uns gesagt: Ihr Kinder kommet alle mit mir rauf nach Buttenhausen, da hat es Platz.« Fünf Wochen seien sie dort oben gewesen und haben es wunderschön gehabt - »und sind gerade noch rechtzeitig heruntergekommen zum zweiten Angriff, der in der Hauptsache am Südbahnhof und im Lindach war«.
Dort mussten sie von der Hitlerjugend aus beim Aufräumen helfen: Stoff vom Keller hochtragen in die Garage. Männer, die dort arbeiteten, rieten, legt das hier vorne ab, geht nicht ganz hinein. »Da lag nämlich auf dem Boden ein Tuch mit verschiedenen Erhöhungen.« Erst als ein Auto voll Särge herangefahren kam, habe sie mitbekommen, »dass da lauter Tote unter der Decke lagen«. Die Männer bemühten sich, sie zu identifizieren. Hildegard Holder kann sich an den Namen einer Frau und ihre Adresse auch nach 80 Jahren noch erinnern.
»Aber wir waren nicht lange dort, es kam schon wieder der Alarm, da sind wir nach Hause gerannt.« Beim dritten Angriff wurde der Bahnhof und das Gebiet drumherum mit dem Hotel Kronprinz komplett zerstört, »aber das Bruderhaus hat nichts mehr abgekriegt«. (GEA)