Der Experte hat den Kreisräten massenweise Zahlen und Tabellen mitgebracht, die zeigen, was demografisch in den nächsten Jahrzehnten in Baden-Württemberg passieren wird. Wenn der Wandel auch örtlich unterschiedlich ausfallen wird (die Städte zum Beispiel entwickeln sich anders als der ländliche Raum), so ist doch die Tendenz klar: Es geht unaufhaltsam in Richtung alternde Gesellschaft. Laut Bürgers Prognosen beginnen die dramatischen Veränderungen etwa im Jahr 2020. Von da an nimmt die Zahl der Menschen über 65 Jahren deutlich zu (und darunter auch der Anteil der über 85-Jährigen). Gleichzeitig sinkt nicht nur die Zahl der unter 21-Jährigen, sondern auch der Menschen im »produktiven Alter« zwischen 21 und 65 Jahren.
Der sogenannte Versorgungsquotient zeigt, was das bedeutet. Er gibt an, wie viele unter 21-Jährige und über 65-Jährige auf je 100 Einwohner im produktiven Alter kommen: Derzeit liegt der Quotient bei 67. Ab 2020 wird er stark ansteigen, und im Jahr 2060 werden 100 Personen im produktiven Alter 93 Junge und Alte quasi mitversorgen müssen. Die Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters spielt im Moment noch keine Rolle, weil das tatsächliche Renteneintrittsalter im Landesdurchschnitt derzeit bei 63 Jahren liegt.
Sind überhaupt seriöse Vorhersagen über solch einen langen Zeitraum möglich? Ja, sagt Ulrich Bürger. »Demografische Entwicklung passiert in sehr langen, trägen Wellen«, die sich nicht innerhalb weniger Jahre verändern. Was in den kommenden Jahrzehnten Tatsache wird, ist schon in der Altersstruktur der Bevölkerung angelegt. »Der einzige unsichere Faktor ist die Zuwanderung.« Alles andere seien »unumkehrbare Entwicklungen«.
»Junge Leute und junge Familien werden zum knappen Gut«Diesen Entwicklungen sei man jedoch nicht völlig hilflos ausgeliefert. Solange die Lage noch einigermaßen stabil ist (also etwa bis zum Jahr 2020), gebe es Chancen, die richtigen Impulse zu setzen. »Das ist kein moralischer Appell«, sagt Bürger trocken in Richtung der Kreisräte, »das ergibt sich aus der Faktenlage«. Den Entscheidern auf kommunalpolitischer Ebene müsse klar sein: Junge Leute und junge Familien werden zum »knappen Gut«. Zu einer Minderheit, deren Interessen nicht deckungsgleich sind mit denen der Älteren und ganz Alten. Und weil die Jungen in der Minderheit sind, »brauchen sie die Unterstützung der kommunalpolitischen Lobby«. Weniger Jugendliche heiße also nicht weniger Ausgaben für Jugendhilfe – im Gegenteil: Junge Leute aus sozial schwierigen Verhältnissen müssten mehr als bisher gefördert werden, damit keiner durchs Raster fällt. Alles andere wäre fatal für Wirtschaft und Gesellschaft.
Also Geld lockermachen für die Bildung der nachwachsenden Generation. »Und Bildung ist entscheidend mehr als das, was in der Schule passiert.« Um Persönlichkeitsentwicklung gehe es, um die Vermittlung von Sozialkompetenz. Arbeit, die in der Jugendhilfe sowie der offenen und verbandlichen Jugendarbeit (zu der auch die Vereine zählen) geleistet werde. Auf einen guten Weg finden junge Leute, wenn sie Anerkennung und Wertschätzung erfahren und Erfolge erleben.
Die Kreisräte dürfen sich hier durchaus auf die Schulter klopfen, denn der Landkreis Reutlingen steht in Sachen Jugendhilfe nicht schlecht da – auch das belegt Bürger mit Tabellen. Bei den Betreuungsmöglichkeiten für Kinder liegt man im Baden-Württemberg-Ranking fast schon im oberen Drittel. Bürger empfiehlt, die Kinderbetreuung noch auszuweiten, damit sich Familie und Beruf unter einen Hut bringen lassen. Gute Noten gibt der Fachmann dem Kreis auch für die Jugendarbeit. Bei der Schulsozialarbeit, einem »zentralen Scharnier«, ist er gar Spitzenreiter im Vergleich mit den anderen Kreisen: »Nicht nachlassen«, sagt der Experte. Handlungsbedarf sieht er bei der Unterstützung junger Menschen in schwierigen sozialen Lebenslagen, da ist im Kreis Reutlingen noch Luft nach oben.
»Bildung ist entscheidend mehr als das, was in der Schule passiert«Und Ulrich Bürger weicht auch der entscheidenden Frage nicht aus: Wer soll das bezahlen? »Nicht alle Kommunen sind arm«, findet er, »man muss eben die Prioritäten anschauen«. Auch dort, wo die Kassen klamm sind, werde man nicht umhinkommen, die Verteilung der finanziellen Ressourcen neu zu diskutieren. Dass es hier künftig noch stärkere Konkurrenz zwischen der älteren Generation und der jüngeren geben werde, sei abzusehen. Die große Politik schaut ihm zuweilen zu sehr nach den Wählerpotenzialen und zu wenig nach der Sache. Im Übrigen sieht Bürger durchaus auch Bund und Land in der Finanzierungspflicht – schließlich haben Städte und Kreise den demografischen Wandel weder zu verantworten noch können sie ihn steuern. Und weil er kein Politiker ist, kann er laut über höhere Steuern für Wohlhabende nachdenken.
Und was macht der Kreistag nun mit all den Zahlen und den mutmaßlichen Konsequenzen? Man will das Thema zunächst abseits der Haushaltsberatungen diskutieren. Aber spätestens dann, sagt Landrat Thomas Reumann, »müssen wir uns ehrlich machen und entscheiden, wo wir die Prioritäten setzen«. (GEA)