REUTLINGEN. »Das war eine wirklich unschöne Bescherung zur Adventszeit«, sagt ein Reutlinger. Im Dezember hat der Mann, dessen Mutter seit zwei Jahren in einer Einrichtung der Reutlinger Altenhilfe (RAH) lebt, ein dickes Schreiben vom Heim-Träger bekommen. Der ungute Inhalt, knapp zusammengefasst: Die Kosten für ein Zimmer in den RAH-Heimen sollen sich ab Januar 2025 um rund 1.000 Euro pro Monat erhöhen. Der Betrag schwankt jeweils ein wenig, je nach Pflegegrad. Die Pflegesatzverhandlungen der RAH sind noch nicht abgeschlossen. Das Schreiben dient zur Info, die Beträge sind noch nicht in Stein gemeißelt, die engültige Summe wird niedriger sein. Doch der Beigeschmack für die Bewohner war schal bis schockierend.
Dass das Leben im Pflegeheim keine billige Angelegenheit ist, ist dem Mann bewusst. Hat ein Zimmer für einen Menschen mit Pflegegrad zwei im Heim seiner Mutter bislang noch 4.422 Euro gekostet, will die RAH ab Januar 5.432 Euro verlangen. Einen Teil dieser Kosten trägt die Pflegeversicherung. Die Differenz müssen die Senioren bezahlen, die dort leben. Ist ihr Vermögen aufgebraucht, müssen Kinder finanziell einspringen - wenn sie denn mehr als 100.000 Euro brutto im Jahr verdienen. Auch Schenkungen, die weniger als zehn Jahre zurückliegen, können zurückgefordert werden. Ist auch auf diesem Weg kein Geld mehr zu bekommen, greift die »Hilfe zur Pflege«, Stadt oder Landkreis springen ein. »Wir hören immer häufiger, dass Einrichtungen in Vorleistung gehen müssen, weil die Anträge beim Sozialamt lange liegen«, teilt der BIVA-Pflegeschutzbund auf GEA-Anfrage hierzu mit. »Wir reden hier teilweise von Bearbeitungszeiten von sechs bis neun Monaten.«
»Wir reden hier teilweise von Bearbeitungszeiten von sechs bis neun Monaten«
Doch zurück zum Reutlinger Fall. Dass die Kosten für ein Zimmer im Pflegeheim steigen, ist normal. »In den vergangenen Jahren lag die Forderung von uns für die Pflegesatzverhandlung immer bei 400 bis 500 Euro«, sagt Timo Vollmer, der Geschäftsführer der RAH. Die tatsächlichen Preissteigerungen hätten dann, nach Abschluss der Verhandlungen, bei 200 bis 300 Euro gelegen. Er weist als Geschäftsführer des Unternehmens aber auch auf Folgendes hin: 2023 hat die RAH das Jahr mit einem Minus von 700.000 Euro abgeschlossen. Heißt: Die bei den Pflegesatzverhandlungen einkalkulierten Kosten haben nicht ausgereicht, um alle Ausgaben zu decken.
Ein Hauptkostentreiber im Pflegesektor sind »die rasant steigenden Lohnkosten«, wie Vollmer erklärt. Was auf der einen Seite gut für die Heime ist - will man ja qualifizierte Pflegekräfte anlocken, die auch ausreichend bezahlt werden. Auf der anderen Seite stellen die enormen Verdi-Forderungen die Heimträger vor riesige finanzielle Herausforderungen. Im Frühjahr 2025 steht laut Vollmer eine erneute Steigerung im Tarifvertrag öffentlicher Dienst an. Die RAH hat die Verdi-Maximalforderung eingepreist, um kein Risiko einzugehen.
»Das Hauptthema sind tatsächlich die rasant steigenden Lohnkosten«
Die Lohnkosten werden also sicher steigen, zudem wird die RAH ab 2025 auch mehr Pfleger beschäftigen. Die sogenannte Personalbemessung hat sich verändert, für gleich viele Bewohner werden also mehr Pflegekräfte benötigt. Heime müssen dies nicht umsetzen, sagt Vollmer, die RAH wolle ihren Bewohnern jedoch »eine bestmögliche Pflege bieten«. Das bedeute aber auch: noch mehr Lohnkosten, die irgendwie wieder erwirtschaftet werden müssen. Insgesamt hat die RAH fürs Jahr 2025 eine Kostensteigerung von 16,46 Prozent im Personalbereich einberechnet. Die Gesamtkosten in den RAH-Einrichtungen teilen sich so auf: 82,5 Prozent Personal- und 17,5 Prozent Sachkosten.
Zudem läuft 2025 noch ein »vergleichsweise billiger« Strom- und Gasvertrag aus, sagt der Geschäftsführer, und die allgemeinen Lebenshaltungskosten steigen in jedem Sektor. Und zack: kommt die besagte RAH-Forderung von rund 1.000 Euro zustande, wie er vorrechnet.
»Die jetzige Steigerung führt also zur Angleichung des Preisniveaus«
Eine Nachfrage bei der BruderhausDiakonie zeigt: Auch in deren Heimen wird es wohl zu Erhöhungen kommen. Die aktuellen »Vergütungsvereinbarungen« seien noch bis zum 1. März gültig, teilt man auf GEA-Anfrage mit. Die Verhandlungen mit den Kostenträgern starten in den kommenden Wochen. »Voraussichtlich wird es nach den Entgeltverhandlungen zu Kostensteigerungen kommen«, so Pressesprecherin Sabine Steiniger. Diese lägen erfahrungsgemäß zwischen fünf und 15 Prozent. Bei der RAH liegen sie bei rund 25 Prozent. RAH-Chef Vollmer weist darauf hin, dass die Tarife in seinen Häusern aktuell unter denen der BruderhausDiakonie lägen. »Die jetzige Steigerung führt also zur Angleichung des Preisniveaus.«
Vollmer sieht dringenden Handlungsbedarf von politischer Seite. Das Pflegesystem in seiner jetzigen Form stehe vor dem Kollaps. »Es kam in den letzten drei bis vier Jahren zunehmend zu Insolvenzen im Altenhilfebereich«, sagt er. »Das Hauptthema sind tatsächlich die rasant steigenden Lohnkosten.« Bei den Pflegesatzverhandlungen mit den Sozialhilfeträgern - also mit Kreis, Stadt und dem Kommunalverband für Jugend und Soziales - seien diese steigenden Lohnkosten in den vergangenen Jahren nicht mehr vollumfänglich ersetzt worden. Heißt: Heim-Träger, wie die RAH, bleiben auf ihnen sitzen, rutschen immer mehr ins Minus.
»Es kam in den letzten drei bis vier Jahren zunehmend zu Insolvenzen im Altenhilfebereich«
Ein weiteres Zeichen für ein System, das vor dem Kollaps steht: Für neue Heime finden sich kaum noch Investoren. Jüngstes Beispiel aus der Region: Das in Degerschlacht geplante Heim für den Reutlinger Nordraum, für das es schon einen Bauplatz gäbe. Wird ein neues Pflegeheim gebaut, müssen die für den Träger anfallenden Kosten durch Bewohner refinanziert werden. Vor allem seitdem sich das Land vor rund zehn Jahren aus der Förderung für Heim-Neubauten zurückgezogen hat, ist das zu »erwirtschaftende« Delta sehr groß. Ein Heim muss voll belegt sein, damit es sich schnell refinanziert. Und hier schlägt nun gnadenlos der Fachkräftemangel in der Branche zu. Wenn nämlich aufgrund von Personalmangel eine oder mehrere Stationen nicht betrieben werden können, geht diese Rechnung schon nicht mehr auf. Träger können in finanzielle Schieflage geraten.
Die Pflegesatzverhandlungen der RAH haben im vergangenen Herbst jedenfalls nicht zum Erfolg geführt. Die Sozialträger sehen die RAH-Forderungen als zu hoch an, man wurde sich in mehreren Anläufen nicht einig. Nun landet der Fall in der Schiedsstelle. Die Entscheidung kann sich noch mehrere Monate hinziehen. Für die Bewohner bedeutet das: Sie müssen sich auf eine (gegebenenfalls saftige) Nachzahlung einstellen. Diese wird fällig, sobald es zu einem Ergebnis gekommen ist. In dem im Dezember 2024 verschickten Schreiben steht noch, dass die durch die Schiedsstelle festgelegten Kosten »erfahrungsgemäß niedriger« ausfallen, als die von den Trägern geforderten.
»So hohe Forderungen bedeuten nicht, dass am Ende die Erhöhung auch so hoch ausfällt«
»Ein Betrag von 1.000 Euro ist überdurchschnittlich hoch«, ordnet der BIVA-Pflegeschutzbund ein. Aber: »So hohe Forderungen bedeuten nicht, dass am Ende die Erhöhung auch so hoch ausfällt.« Deshalb sollte man sich zunächst nicht von diesem Betrag abschrecken lassen.
Am Beispiel der RAH lässt sich eine ungute Gemengelage erahnen, die sich zuspitzen wird. Kommunen und Landkreise sind an der finanziellen Belastungsgrenze angelangt, manche schaffen es jetzt schon nicht mehr, einen genehmigungsfähigen Haushalt auf die Beine zu stellen. Pflegeträger kämpfen um Fachkräfte. Gewerkschaften versuchen, diese mit Lohn zu locken. Kosten explodieren - und am Ende müssen wieder Städte und Landkreise in die Bresche springen. (GEA)