REUTLINGEN. Vor dem Reutlinger Arbeitsgericht hat ein Mann gegen die krankheitsbedingte Kündigung durch seinen Arbeitgeber geklagt. Eine Güteverhandlung war gescheitert, weshalb der 62-jährige Software-Entwickler mit seinem Anwalt beim Kammertermin mit einer Berufsrichterin und zwei Laienrichtern schließlich dem Vertreter seines langjährigen Arbeitgebers gegenüberstand.
Am Ende zog die Firma die Kündigung zurück und das Verfahren wurde eingestellt. Der Knackpunkt in diesem Fall: Die Kündigung wegen Krankheit war dem Mitarbeiter just ins Haus geflattert, als die Genesung von einer zweijährigen Long-Covid-Erkrankung absehbar war. Den Vorgesetzten hatte er über seinen Zustand auf dem Laufenden gehalten und zuletzt auch darüber informiert, dass mit ihm nach einer Reha wieder zu rechnen sei, erklärte er in der Verhandlung. Umso mehr habe ihn die vom Betrieb als Grund für die Entlassung angeführte »negative Prognose« getroffen.
Ein Leben für die Arbeit
Der Mann ist seit fast 38 Jahren für einen Reutlinger Technologie-Konzern tätig und hat sich offenbar überdurchschnittlich in seinem Job engagiert: stets erreichbar, viel im Ausland eingesetzt. Emotional erklärte er vor Gericht, er habe die Fertigungs-IT-Sparte mit aufgebaut und sei im Team hoch angesehen. Auch nach dem langen Krankenstand. Da der Beklagten-Anwalt wiederholt zu Sachlichkeit mahnte, schilderte der 62-Jährige eben nach der Verhandlung, wie er sogar vom Hausbau weg auf Abruf im Einsatz war und berufsbedingt die Einschulung von zwei seiner sechs Kinder versäumt hat. Bevor ihn die Erkrankung »niederstreckte«, hatte er in Auslandseinsätzen 1.800 Überstunden - das sind mehr als zehn Monate - angesammelt. Und dazu 73 Tage Urlaub. Durch die Auslandsaufenthalte und die hohe Beanspruchung sei sein Immunsystem so geschwächt gewesen, dass es dem Virus nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Der 62-Jährige war zudem verwundert darüber, dass ihm das Angebot eines Betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements (BEM) erst Monate nach der Kündigung zugesandt wurde. Wie erhofft arbeite er seit September wieder in Vollzeit, 40 Stunden die Woche, erklärte er dem Gericht.
Richterin klärt Hintergründe
Nun fühle er sich allerdings von Vorgesetzten drangsaliert. Sein Anwalt spricht von »extremer Abstoßung«. Der Mitarbeiter betont, er war willens, gesund zu werden und bis zum gesetzlichen Rentenalter einsatzfähig zu bleiben. Nur weil die Firma aktuell »händeringend Leute sucht, die freiwillig gehen«, wäre er zum Vorteil jüngerer Kollegen bereit, mit Abfindung vorzeitig auszuscheiden. Zwei von zehn Arbeitnehmern soll seine Abteilung derzeit abbauen. Das Angebot des Arbeitgebers war bislang für ihn aber inakzeptabel: 25.000 Euro statt der als »moderates Gegenangebot« errechneten 100.000.
Die Vorsitzende Richterin Sophia Reinhardt hakte »im Rahmen der Interessenabwägung« nach: Weshalb kam das BEM-Verfahren nicht zustande? Und woher rührte die negative Gesundheitsprognose? Anscheinend waren wichtige Infos jeweils nicht oder nicht an den richtigen Stellen angekommen. Nachdem der Kläger noch drei Jahre hat, bevor er abschlagsfrei in Rente gehen kann, gehe es hier aber auch um die Frage: »Ist dieses Arbeitsverhältnis dann sinnentleert?«
Einsatz nichts wert?
Das blieb letztlich offen. Der Beklagtenvertreter erklärte schließlich, er gehe davon aus, »dass die Voraussetzungen für die Kündigung nicht mehr vorliegen«. Nach Rücksprache mit der Firma kündigte Leist an, die ziehe die Kündigung zurück und beschäftige den IT-Fachmann weiter. Zu gleichen Bedingungen wie zuvor. Und: Bei Interesse werde seine Teilnahme am »Freiwilligenprogramm nochmal wohlwollend geprüft«. Möglicherweise wird also erneut über eine finanzielle Abfindung verhandelt. Über deren Höhe, die Inhalte und Modalitäten wollte er öffentlich nichts sagen.
Der Klägeranwalt stimmte zu. So wurde der Prozess »kostenneutral« beigelegt. Peter Lange betonte, juristisch habe sein Mandant »zu 100 Prozent gewonnen«. Dennoch sei das Arbeitsverhältnis nun maximal belastet. Der 62-Jährige hat aus dieser Erfahrung gelernt: »Nachdem ich mich mein ganzes Leben für die Firma eingesetzt habe, ist das denen gar nichts wert.« (GEA)
Im Gerichtssaal
Vorsitzende Richterin im Verfahren vor der 2. Kammer des Reutlinger Arbeitsgerichts: Sophia Reinhardt, ehrenamtliche Richter: Anastasia Kallas und Thomas Stritzelberger; Kläger-Anwalt: Peter Lange; Beklagten-Anwalt: Wolfgang Leist von Südwestmetall. (dia)