REUTLINGEN. Der Aperol leuchtet in der Dämmerung. Schick angezogene und gut gelaunte Menschen stehen zusammen, prosten einander zu. Ein Hauch von Großstadt - mitten in Reutlingen. Das eigentlich auf dem Papier auch eine Großstadt ist. Dem man aber mittlerweile spöttisch nachsagt, dass das Nachtleben hier gestorben ist. Wer Mitte 30 bis Mitte 40 ist, der fühlt sich beim Betrachten dieser Szenerie glatt ein um Jahrzehnt zurückversetzt. In die Zeit, in der zwischen Oberamtei- und Kanzleistraße das Nachtleben tobte. Was ist da los, ist etwa das sogenannte Bermudadreieck zurück? »Wir wollen es nicht beschreien.« Onur Sönmez antwortet überlegt auf diese Frage, denn er weiß, wie heikel das Thema ist.
Der 28-jährige Gastronom, der auch die Nachtfabrik und mehrere Spätis in Reutlingen und Tübingen betreibt, ist in der Achalmstadt aufgewachsen, hat hier seine Jugend verbracht. Er hat also noch erlebt, wie einst am Eck Oberamtei-/Kanzleistraße nachts das Leben tobte. Zur Freude junger Partygäste. Und zum Leid der Anwohner. 2013 gründete sich als Folge der nächtlichen Umtriebe die Bürgerinitiative Nachtruhe, die 2016 sogar eine Fachaufsichtsbeschwerde gegen das Reutlinger Ordnungsamt beim Tübinger Regierungspräsidium einlegte. Das Amt tue zu wenig, um dem lärmgeplagten Bürgern zu helfen, hieß es damals. Das Problem löste sich in den Folgejahren dann sukzessive auf: Die besagten Kneipen gingen, mit ihnen auch größtenteils der Lärm. Doch seit einigen Wochen werden sich einige Reutlinger wieder an alte Party-Zeiten erinnert fühlen.
Denn am 29. Mai haben Sönmez und sein Schulfreund Tobias Schuhmacher in der ehemaligen Hausbar das »Nullsechs« eröffnet. »Nullsechs«, weil sich die beiden 2006 auf der Realschule kennengelernt haben. »Von Freunden für Freunde« haben sie ihr Bar-Konzept genannt. Und es kommt an. Vor allem, seit das Sommerwetter da ist. »Das funktioniert, weil wir Reutlinger sind«, sagt Schuhmacher. »Weil wir die Leute kennen.« Donnerstagabend ist After-Work-Party, Freitag und Samstag reguläres Wochenend-Programm. Manchmal öffnet auch das Modecafé Benz am Donnerstagabend, allerdings sei's nicht abgesprochen, sagt Inhaber Markus Benz. Am anderen Eck zieht zudem der seit Februar neu verpachtete »Kanzleirat« Publikum an.
»Das funktioniert, weil wir Reutlinger sind. Weil wir die Leute kennen«
Und auch in der »Genusswerkstatt«, schräg gegenüber vom Modecafé, ist einiges los. Inhaber Peter Hack sagt, dass Donnerstage bei ihm sowieso schon immer stark gewesen seien. Seit die »Nullsechs«-Bar geöffnet hat, biete sich in der Straße abends ein tolles Bild. »Vor zwei Wochen haben Leute auf der Straße getanzt«, erzählt er. »Ich wurde von Gästen angesprochen, wie schön das sei, fast wie in Italien.« Hack freut sich über das neue Leben in der Straße, »jeder hat seine Zielgruppe, keiner nimmt dem anderen was weg«. Aber er findet auch: »Man muss die Regeln und die Anwohner respektieren.« Wenn er einen DJ da habe, »hört der spätestens um 22.30 Uhr auf«. Und mit dieser Schiene sei er bisher auch sehr gut gefahren.
Vier Lokalitäten, ein extrem warmer Juli und August - heißt konkret: An einem Donnerstagabend stehen gegen 21 Uhr schonmal 200 bis 300 Menschen auf der Straße, unterhalten sich, lachen, trinken. Aus der »Nullsechs«-Bar dröhnt Musik, ordentlicher Bass. Viele Videos kursieren in den Sozialen Medien, vielfach begeistert kommentiert. »In Reutlingen ist nichts los? Von wegen«, heißt es da. Und es ist wie schon vor zehn Jahren: Des einen Freud' bedeutet oft des anderen Leid. »Unsere Telefone klingeln ab 22 Uhr«, sagt Schuhmacher. Vor der Eröffnung des »Nullsechs« haben er und Sönmez den Anwohnern im Umkreis von 300 Metern Flyer mit ihren Telefonnummern in die Briefkästen geworfen. Und diese nutzen das Angebot jetzt auch. Manche rufen an, andere schreiben Nachrichten.
Die Regeln sind klar: Um 22 Uhr müssen die Fenster geschlossen werden, dann beginnt die Nachtruhe. Ab 23 Uhr ist Außengastro-Sperrzeit für die Kneipen am Bermudadreieck. Eigentlich dürfen dann keine Menschen mit Gläsern mehr draußen stehen. Die Krux an der Sache: Das »Nullsechs« läuft zu gut, um das wirklich umsetzen zu können. Denn die vielen Menschen, die um 23 Uhr noch draußen stehen, passen kaum in den recht kleinen Innenraum. Mal davon abgesehen, dass sie sich an schwülen Sommerabenden auch nicht unbedingt im Innern aufhalten wollen. Und so entsteht stellenweise der Eindruck, dass die Sperrstunde hier nur auf dem Papier zu bestehen scheint. Sönmez und Schuhmacher betonen im GEA-Gespräch, dass sie versuchen, die Regeln einzuhalten. Denn ihnen sei bewusst: »Wir sind in der Bewährungsfrist.«
»Ich finde klasse, dass dort Leben herrscht, ich finde, das gehört in die Innenstadt einer Großstadt«
Im 100 Meter entfernten Rathaus schaut man mit viel Freude und etwas Bauchgrimmen auf das neu entfachte Leben am Bermudadreieck. »Ich finde es klasse, dass dort Leben herrscht. Ich finde, das gehört in die Innenstadt einer Großstadt«, sagt Finanzbürgermeister Roland Wintzen. »So etwas trägt zur Attraktivität einer Stadt bei.« Aber auch der aufkeimende Ärger einiger Anwohner ist im Rathaus angekommen. Denn manche wenden sich nicht an die Gastronomen, sondern direkt an Ordnungsamt oder Polizei. Diese hat seit Ende Mai »Einsätze im mittleren einstelligen Bereich« am Bermudadreieck notiert, heißt es auf GEA-Anfrage aus dem Revier. Überwiegend habe es sich hierbei um Ruhestörungen aus dem »Nullsechs« gehandelt. Die Einsatzzahlen seien vergleichbar mit denen aus dem Vorjahr, heißt es weiter. Einen neuen Schwerpunkt mache man nicht aus.
Das Ordnungsamt, das laut Wintzen »nicht präventiv tätig wird«, habe sich nach den ersten Beschwerden nochmals mit den Gastronomen zusammengesetzt. Man habe Sönmez und Schuhmacher in Aussicht gesellt, dass die Außengastro-Sperrzeit auf 24 Uhr verlängert werden kann, berichtet Wintzen - »wenn das gut funktioniert«. Heißt: Wenn die Regeln eingehalten werden und es verträglich für Anwohner ist. Für die Lokale am Marktplatz gilt schon jetzt 24 Uhr als Sperrstunde draußen. »Aber jeder andere Gastronom kann das auch beantragen«, erklärt der Finanzbürgermeister. Sechs Betriebe hätten das bereits getan und eine Genehmigung bekommen. Reutlingen habe für seine Größe enorm »liberale Sperrzeiten«, betont er.
»Nachtleben leistet einen großen immateriellen Mehrwert«
Gerne und schnell wird beim Thema Nachtleben und Nachtruhe über die Stadtverwaltung geschimpft. Doch auch die meistert einen Drahtseilakt. Auf der einen Seite bringt ein florierendes Nachtleben Vorteile für eine Kommune. Das hat eine Studie zur Nachtökonomie gezeigt, welche die Stadt Stuttgart 2023 in Auftrag gegeben hatte. Neben den rein wirtschaftlichen Effekten leiste das Nachtleben »einen großen immateriellen Mehrwert, der mindestens ebenso relevant ist und positive Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Urbanität, das Image und die allgemeine Attraktivität der Stadt hat«, heißt es da. Nachtleben sei also ein »zunehmend wichtiger Standortfaktor«. Auf der anderen Seite können Anwohner auch vor Gericht ziehen. Wie beispielsweise in Freiburg geschehen - und was man im Reutlinger Rathaus natürlich tunlichst vermeiden will.
Ein Blick ins GEA-Archiv zeigt: Schon 2012, als das Bermudadreieck noch in seiner Partyblüte stand, musste die Stadt die Interessen zwischen Lärmschutz und Party abwägen. Was nicht immer gelang und stellenweise zu Ratlosigkeit führte. »Wir haben das nicht voll im Griff«, wird Ordnungsamtschef Albert Keppler aus dem Finanzausschuss zitiert. Man versuchte, das Ruhestörungs- und Wildpinklerproblem mit mehr Kontrollen durch Polizei und Ordnungsamt in den Griff zu bekommen. »Doch wenn da 100 bis 200 Leute stehen, richten Sie mit zwei Streifenwagen nichts aus«, betonte Keppler damals. In einem Lokal hatte man sogar eine Musikanlage »elektronisch fixiert«, sprich die Lautstärke gedämpft.
»Doch wenn da 100 bis 200 Leute stehen, richten Sie mit zwei Streifenwagen nichts aus«
»Nullsechs«-Wirt Onur Sönmez findet, dass man an einer anderen Stelle anpacken muss. Er fordert die Stadt auf, sich in puncto Nachtleben klar zu positionieren. »Wir hoffen, dass sich die Stadt bald entscheidet: Will sie belebt sein oder weiter mit angezogener Handbremse fahren?« Immerhin seien er und Schuhmacher sehr bemüht. Donnerstags bis samstags hätten sie jeweils zwei bis drei Security-Mitarbeiter engagiert, »alles auch nicht billig«. Wenn sich die Stadt hinter sie stelle, »können wir uns alle an einen Tisch setzen und Lösungen finden«, so Sönmez. Wie die aussehen können? Er fordert Kreativität und schlägt beispielsweise Zuschüsse für Lärmschutzfenster bei Anwohnern vor. Finanzbürgermeister Wintzen erteilt dieser Idee eine Absage: »Finanzielle Zuschüsse für einzelne Leute können wir nicht geben, das geht nicht.«
Dass das Thema Ruhestörung wieder zum Problem werden könnte, war Sönmez und Schuhmacher offenbar bewusst. Nach einem Jahr können sie aus ihrem Mietvertrag aussteigen, danach kann er zwei Mal um jeweils fünf Jahre verlängert werden. Nachbar-Wirt Markus Benz vom Modecafé sagt: »Es wäre schade, wenn dieses zarte Pflänzchen schon kaputtgeht.« Ähnlich sieht es Kanzleirat-Wirtin Anastasia Kalliontzi: »Es kann doch nicht sein, dass ein oder zwei Anwohner so ein Problem machen, und währenddessen 200 bis 300 Menschen bei uns in der Ecke eine echt gute Zeit haben.« (GEA)