REUTLINGEN-SICKENHAUSEN. »Wieso bauen wir denn keinen Damm? An den Häusern entlang? Sodass das Wasser zwangsweise auf die Felder abfließen muss?« José Mendes Francisco bringt an diesem Abend im Sickenhäuser Bezirksgemeinderat eine eher unkonventionelle Idee ein, als es wieder mal ums altbekannte Thema Hochwasserschutz geht. Und erntet dafür prompt ein anerkennendes Nicken von Torsten Müller, Abteilungsleiter für Gewässer und Regenwassermanagement bei der Stadtentwässerung (SER). »Das ist keine ungeschickte Idee«, muss Müller zugeben. »Die haben wir noch nie geprüft bisher, das schauen wir uns mal an.«
Wie kann man die Häuser am Sickenhäuser Ortsausgang in Richtung Degerschlacht vor Hochwasser schützen? Damit beschäftigen sich Bezirksgemeinderat und Stadtentwässerung seit fast einem Vierteljahrhundert - nämlich seit dem letzten, wirklich verheerenden Hochwasserereignis 2002. Doch bisher ohne Erfolg. Denn das geplante Grabensystem, mit dem das Wasser über die Felder aus Richtung Kirchentellinsfurt in den Wieslesbach geleitet werden soll, dümpelt seit Jahren halbfertig vor sich hin. Einzelne Grundstückseigentümer wollen weiterhin nicht an die Stadt verkaufen. Der Bezirksgemeinderat hatte diese Grabenlösung 2003 gewünscht, während die Verwaltung damals für eine Modellierung des Geländes plädiert hatte.
»Von Hochwasserschutz kann man hier aber wirklich nicht reden«
Wie auch immer: Die neu erstellen Karten fürs Starkregen-Risikomanagement in diesem Bereich zeigen nun eindrücklich, warum eine schnelle Lösung wirklich wichtig wäre: Bei einem seltenen »extremen Starkregenereignis« wären nämlich potentiell 341 Gebäude in diesem Gebiet von Hochwasser betroffen. Tannhäuser-, Nibelungen- und Egmontstraße sind auf den Karten sogar tiefblau eingezeichnet. Diese Straßen würden stellenweise bis zu einem Meter hoch überflutet werden, sagt die Prognose der SER voraus.
SER-Mann Müller präsentiert den Sickenhäuser Bezirksgemeinderäten an diesem Abend ein kleines Geschenk: Nämlich die Botschaft, dass der "Badewannenüberlauf", wie es Schultes Klaus Nagel nennt, umgesetzt wurde. Vom Ende des halbfertigen Hochwasserschutz-Grabens leitet nun ein Rohr das Wasser in einen bereits bestehenden Abwasserkanal. Eine Behelfslösung, mehr nicht. Doch sie verhindert immerhin, dass in Zukunft bei jedem etwas heftigeren Landregen viele Feuerwehrleute das Wasser vom Grabenende in den Kanal pumpen müssen. Und dass Anwohner von tagelang surrenden Pumpen genervt sind. »Von Hochwasserschutz kann man hier aber wirklich nicht reden«, betonte SER-Mann Müller nochmal. "Und wenn entsprechend viel Wasser kommt, haut es eben ein paar Meter weiter weg die Schachtdeckel raus." Das Problem verschiebe sich nur. Und: "Trotz Rohr muss weiterhin jemand diesen Einsatzpunkt bei einem Unwetter überwachen", sagt Müller.
»Wenn entsprechend viel Wasser kommt, haut es eben ein paar Meter weiter weg die Schachtdeckel raus«
Vor knapp einem Jahr, im Juni 2024, floss der unfertige Graben ziemlich voll. Durch mehrtägiges Abpumpen konnte die Feuerwehr aber ein Überlaufen verhindern. Damals wurden eine Regenmenge von 22 Millimetern pro Stunde gemessen. Zum Vergleich: Beim Unwetter 2002 waren es 190 Millimeter pro Stunde. Diese Zahlen untermauern Müllers Aussage: Der unfertige Graben würde bei einem sehr starken Regen sofort volllaufen, von Hochwasserschutz kann keine Rede sein.
Und dann kommt er auch direkt zu den schlechten Nachrichten: Alles, was die Bezirksgemeinderäte jüngst wieder vorgeschlagen haben, um die Hochwasser-Situation zu lösen, ist nicht umsetzbar, oder hilft nicht weiter. Das Grabensystem weiter in Richtung Degerschlacht verlegen? »Man darf mit einer Schutzmaßnahme nicht zu weit weg vom Dorf«, sagt Müller. »Sonst bringt sie nichts mehr.« Rohre übers Feld verlegen, statt Gräben zu graben? »Die verstopfen viel zu schnell«, sagt Müller. »Außerdem fließt alles, was zwischendrin auf den Feldern runter kommt, über die Rohre drüber.« Einen Feldweg so umzumodellieren, dass das Wasser über ihn abfließen kann? »Extrem hoher Aufwand, sehr hohe Kosten«, sagt Müller. Außerdem seien auch hier Eingriffe in Privatgrundstücke notwendig.

Außerdem: Wie man es auch dreht und wendet, jeder Graben müsste den »Höhenrücken« auf den Feldern überwinden, um das Wasser am Ende in den Bach zu leiten. Er muss also immer entsprechend groß sein. Die aktuelle Planung sieht eine Breite zwischen 3,3 und 6,3 Metern vor. Doch vielleicht kommt es nun sowieso ganz anders? SER-Mann Müller verspricht an diesem Abend, dass alles nochmal auf den Prüfstand kommt. Die »Damm-Idee« von José Mendes Francisco soll geprüft werden. »Wir werden auch andere mögliche Trassen nochmal untersuchen«, so Müller. Ein neues Ingenieurbüro soll neue Pläne erstellen. »Es wird dann eine wasserwirtschaftliche Vorzugsvariante geben«, so Müller - sprich eine, die am effizientesten das Wasser ableitet. Dann soll es noch weitere Varianten geben, bei denen beispielsweise Eigentumsverhältnisse einberechnet werden. Und dann wird der Bezirksgemeinderat nochmal ausführlich drüber beraten. (GEA)