REUTLINGEN. Wie entsteht eine Traumatisierung? Was sind mögliche Kennzeichen? Wie kann man insbesondere traumatisierten Geflüchteten zur Seite stehen? Zehn Ehrenamtliche, die Flüchtlinge begleiten, nahmen am Mittwoch im Begegnungs- und Integrationszentrum an einer Fortbildung im Rahmen der Ehrenamtsakademie teil. Als Referentin war Hanna Hiltner eingeladen, Expertin von Refugio Stuttgart (Psychosoziales Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge). Refugio steht seit 22 Jahren Überlebenden von Flucht und Trauma zur Seite. Ute Bruckinger von der Stabsstelle Bürgerengagement der Stadt Reutlingen begrüßte die Gäste.
In der Traumaforschung und -therapie unterscheide man zwischen einem einmaligen schockierenden, traumatisierenden Erlebnis wie beispielsweise einem Verkehrsunfall oder einem Hochwasser und wiederholten, lang andauernden Ereignissen wie Misshandlungen in der Kindheit oder Erlebnissen in Krieg und Flucht. Flüchtlinge erleben nach Hiltners Worten den Verlust von Menschen und Heimat, Folter, Verfolgung, Verletzungen, Vergewaltigung, Hunger und vieles andere, das sie überrolle und zum Gefühl von Ausgeliefertsein führe. »Man hat keine Kontrolle mehr über das eigene Leben und ist größten Unsicherheiten ausgesetzt. Die Psyche ist überwältigt und überfordert.«
Sicherheiten brechen weg
Für Flüchtlinge brächen existentielle Sicherheiten weg, die im »normalen« Leben selbstverständlich seien. Die ehrenamtlichen Helfer würden, wenn sie diese Menschen unterstützen, oft mit außergewöhnlichen Zuständen und Verhaltensweisen konfrontiert, die deutlich machen, dass Schlimmes passiert ist, das die Psyche ausgehebelt hat.
Zu den Symptomen gehörten Schlafprobleme, Konzentrationsstörungen, Erinnerungslücken, unsystematische Schilderungen, ständige Angespanntheit und Reizbarkeit, Aggression, Erschöpfung, extreme Stimmungsschwankungen, Depression, Panikattacken oder Schreckhaftigkeit. Es könne vorkommen, dass Geflüchtete in sogenannten Flash Backs vergangene Ereignisse immer wieder erlebten, so als ob sie gerade stattfänden. »Halten die Symptome länger als sechs Monate an, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung«, so die Referentin. Dabei reagierten Menschen je nach eigener Stabilität unterschiedlich stark auf belastende Situationen. »Entscheidend ist auch, wie es danach weitergeht.«
Auch die Stärken nutzen
Ehrenamtliche könnten keinen Therapeuten ersetzen, jedoch unterstützen durch Zuhören, Zuverlässigkeit, Vertrauensaufbau oder auch nur dadurch, dass sie einfach präsent sind. Die Seminarteilnehmer berichteten über ihre Erlebnisse: Geflüchteten hätten mit Sprachproblemen zu kämpfen, lebten in lauten Unterkünften, seien Rassismus ausgesetzt oder wüssten nicht, ob sie bleiben dürfen. Daher könne es sehr herausfordernd sein, regelmäßig am Sprachunterricht teilzunehmen oder sich um eine Stelle zu bewerben. Selbst Alltagssituationen wie eine Befragung oder zu große Nähe könnten zu Symptomen wie unkontrollierten Zitterattacken führen. Man wisse nicht, was Menschen mit einer erschütterten Psyche triggert, die dann einfach nicht mehr zu »vernünftigem« Denken und Handeln in der Lage seien.
»Doch die Geflüchteten haben auch Stärke und Ressourcen, denn sie haben überlebt. Diese Fähigkeiten gilt es zu fördern«, sagte die Expertin. Sport oder Musik könnten hilfreich sein und wirkten anders, als es rationale Worte könnten. »Häufig jedoch sind die Flüchtlinge gar nicht in der Lage, gutgemeinten Vorschlägen zu folgen, um sozusagen alles schnell wieder in Ordnung zu bringen. Besser ist es, mit ihnen Seite an Seite zu stehen und Dinge gemeinsam zu entwickeln.«
Wichtig für die Ehrenamtlichen sei, auch sich selbst nicht zu überfordern, sondern Grenzen zu setzen, indem man beispielsweise nicht immer erreichbar sei. »Man kann Hilfe anbieten, doch man ist nicht verantwortlich für das Schicksal der Geflüchteten«, betonte ein Teilnehmer. Man dürfe den Flüchtlingen nicht alles abnehmen, was sie auch selbst tun können und könne ihnen ruhig etwas zutrauen. Sehr hilfreich für die Ehrenamtlichen sei die Verankerung in einem Netzwerk. Auch könnten sie sich Rat und Hilfestellung bei Refugio Stuttgart oder Tübingen holen, das auch Vorträge anbiete. (GEA)