»Jedes Kind hat das Recht,erwünscht zu sein«Ein zähes und von Anfeindung überschattetes Geschäft war's. Aber auch eines, das seit Beginn der 1960er-Jahre bundesweit Nachahmer fand, wie die Gründung zahlreicher Pro-Familia-Filialen Land auf, Land ab beweist. Darunter der Kreisverband Reutlingen/Tübingen, der das Licht der Welt 1977 in einem kleinen Büro am Neckar erblickte.
Los ging's hier - unterm Dach des Tübinger Studentenwerks - streng genommen schon 1975. »Es sollte aber noch weitere zwei Jahre dauern, bis die Vereinsgründung vollzogen war«, sagt Eberhard Wolz. Als Mann der ersten Stunde und langjähriger Geschäftsführer erinnert er sich noch gut an die rund fünfzigköpfige Aktivistengruppe, die damals aus den Startlöchern kam: Beflügelt von sozial-liberalem Rückenwind und Fördermitteln einerseits, gebremst durch Gegenwind aus dem konservativen Lager andererseits.
Schwangerschaftskonflikt-, Sexual- und Paarberatung - das sind und waren schon vor vier Dekaden Kernthemen, mit denen die vom Fleck weg gut frequentierte Anlaufstelle in der Unistadt befasst war. Ihr emanzipatorisch-sexualpädagogisch geprägter Ansatz kam an. Die Forderung nach einer Liberalisierung des Scheidungsrechts und der sogenannten Nachverhütung ebenfalls. Was indes nicht ankam: das Pro-Familia-Mobil, ein Kleinbus, mit dessen Hilfe niederschwellige Aufklärungsarbeit in dörflichen Gegenden geleistet werden sollte.
»Aufmerksamkeit«, schmunzelt Pro-Familia-Urgestein und Eberhard Wolz, »erregten wir damit zwar schon. Beraten lassen wollte sich allerdings niemand.« Weshalb es bei verschämt-neugierigen Blicken blieb. Immerhin: Als (provozierende) Marketing-Maßnahme, war das Mobil tauglich. Und manch' verschämt-neugierig Dreinblickender fand mit etwas zeitlichem Versatz deshalb doch den Weg zu Pro Familia. Halt nicht unter nachbarlicher Beobachtung vor der eigenen Haustür, sondern im »fernen« Tübingen, später auch in Reutlingen.
Parallel dazu hielten die aufsuchenden Hilfen von Pro Familia Einzug in Kinderheimen. Es hatte sich herumgesprochen, dass die (S)Experten des Vereins - Sozialpädagogen und Mediziner - selbst vor heißesten Eisen nicht zurückschrecken, dass sie das Rüstzeug dafür haben, Dinge ebenso einfühlsam wie sachlich an- und auszusprechen, die nur allzu gern unter die Teppiche gekehrt wurden. Stichwort: Kindesmissbrauch.
In diesem Punkt kam Pro Familia eine Vorreiterrolle zu. »Segensreich«, findet die amtierende Vorsitzende des Vereins und einstige SPD-Landtagsabgeordnete Rita Haller-Haid, sei diese Pionierarbeit gewesen: »ein Gewinn!« gerade für Mädchen und Jungen, die behördlicherseits aus ihren Familien herausgenommen und notgedrungen in staatlichen Erziehungseinrichtungen untergebracht worden waren.
In einer solchen Institution hatte damals auch Haller-Haid beruflich zu tun. Daher weiß sie: »Vielen Opfern sexueller Gewalt war gar nicht klar, was man ihnen angetan hat. Sie haben es ja nicht anders gekannt -« Und das soziale Umfeld? Guckte weg - viel, viel häufiger als dies heute der Fall ist, da aufmerksame und sensibilisierte, weil aufgeklärte Bürger zunehmend Bereitschaft zeigen, Misshandlung und Missbrauch anzuzeigen.
»Vielen Opfern wargar nicht klar, was manihnen angetan hat«Kinderheime hier, Klassenzimmer dort. Sexualaufklärung im Schulunterricht gehört längst ebenso zum Portfolio der professionellen Pro-Familia-Berater wie Online-Hilfen. Was Erstere, also Besuche in Bildungseinrichtungen betrifft, haben diese über die Jahre nichts an Bedeutung verloren. Zwar hat der Klapperstorch als Fortpflanzungs-Mythos zwischenzeitlich ausgedient und auch Bienchen-und-Blümchen-Modelle gehören der Vergangenheit an, Halbwissen und Falschinformationen rund um Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Verhütung lassen sich indes weit weniger leicht aus der Welt schaffen. Denn da ist das Internet, sind soziale Netzwerke und Postings vom Tiefgang einer Pfütze vor, die Kinder und Jugendliche mit zuweilen haarsträubendem Unsinn versorgen und verunsichern.
»Wir wollten einen Dr. Sommer imInternet etablieren«Der digitalen Desinformation mit fundierten Fakten zu begegnen, ist nach Beobachtung von Geschäftsführerin Grit Heideker nötig und mindestens so wichtig wie das Ineinandergreifen von Sexual- und Medienpädagogik: »weil Kinder und Jugendliche im Netz längst nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten sind.« Und weil sie - daran hat sich binnen der zurückliegenden vierzig Jahre kaum etwas geändert - in Fragen (körperlicher) Liebe den elterlichen Rat nicht eben suchen. Das wäre denn doch gar zu peinlich, sich mit Mama oder Papa auszutauschen. Da hält man sich doch besser an die beste Freundin oder eben ans Internet, das seinem Publikum bekanntlich alles serviert und nichts vergisst. Inklusive Cybermobbing und -crime.
Dennoch birgt es in puncto Aufklärungsarbeit Chancen, wie Eberhard Wolz während der 1990er-Jahre erkannt hat. Wobei es nicht beim bloßen Erkennen blieb. Denn Wolz ließ Taten folgen, hob die Online-Beratung »Sextra« aus der Taufe. »Wir wollten nach dem Muster der Zeitschrift Bravo einen Dr. Sommer im Internet etablieren.« Und das gelang hervorragend.
Waren es zunächst hauptsächlich technikaffine Jungs und Männer, die den digitalen Beratungsservice von Pro Familia nutzten, haben »die Mädchen und Frauen«, so Grit Heideker, »rasch aufgeholt«. Kein Wunder, lassen sich im Schutze der Anonymität manche Fragen doch leichter stellen, manche Probleme eher aussprechen als im direkten Dialog. Außerdem kennt das Netz keine Sprechstundenzeiten. Hier ist immer geöffnet - auch wenn die Antworten und Empfehlungen der bundesweit rund einhundert geschulten Online-Kräfte von Pro Familia mitunter ein bissle - maximal 72 Stunden - auf sich warten lassen. Konkret: Wer sonntags um 2.30 Uhr an »Sextra« schreibt, darf nicht mit einer postwendenden Antwort rechnen.
Apropos rechnen: Das muss Pro Familia mit spitzer Feder. Daran haben vierzig Jahre nichts geändert. Zwar wurde dem Verein Ende der 1990er-Jahre seitens der baden-württembergischen Landesregierung zu immerhin einem stabilen Standbein verholfen. Die von der damaligen Sozialministerin Brigitte Unger-Soyka (SPD) auf den Weg gebrachte und vom Parlament angesegnete 80-Prozent-Pauschalfinanzierung der Schwangerschaftskonfliktberatung deckt die anfallenden Kosten indes bei Weitem nicht ab.
»Nach wie vor gibt es für uns keine gesicherte Vollfinanzierung«, sagt Grit Heideker. Was nicht nur sie als »belastend« empfindet. Bei jährlich steigendem Beratungsbedarf und immer neuen, zusätzlichen Themenfeldern - darunter Scheidungsberatung, Schreibabysprechstunde und Reproduktionsmedizin - müssen sich die Teams in Tübingen und Reutlingen gehörig strecken. Und das, obwohl die Landkreise als Geldgeber mit ins Boot geholt werden konnten. Freilich ohne dadurch längerfristige Planungssicherheit zu erzielen.
Auch jetzt muss wieder neu verhandelt werden, was die Geburtstagsstimmung durchaus ein wenig trübt. Und so viel steht fest: Hätte der Kreisverband Pro Familia Reutlingen/Tübingen zum runden Wiegenfest einen Wunsch frei, dann wäre es der nach einer soliden monetären Absicherung ohne Wenn und Aber. (GEA)

