REUTLINGEN. Die Unwetter, die im Juni über den Landkreis Reutlingen hinweggefegt sind, haben in einigen Stadtbezirken und Gemeinden eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Verbeulte Autos, zerstörte Dächer und Ernteausfälle von bis zu Hundert Prozent. Die Bilder erinnerten an den Hagelsturm von 2013, der im Landkreis Schäden in Höhe von 1,3 Milliarden Euro verursacht hat. Nochmal hätte das eigentlich nicht passieren sollen – dank eines Hagelfliegers.
Wo war der Reutlinger Hagelflieger bei den Unwettern im Juni?
Kurzum: Er stand in Rosenheim irgendwo in einem Hangar am Flughafen. Dort wurde er repariert, da er einen Motorschaden hatte. Doch selbst wenn die Maschine funktioniert hätte, wäre sie nicht gestartet, sagt Gabriele Gaiser, die erste Vorsitzende des Vereins zur Hagelabwehr im Landkreis Reutlingen. Sie begründet das so: »Der Flieger war nicht in der Luft, weil die Hagelsaison für uns noch nicht gestartet ist.« Aus finanziellen Gründen könne der Hagelflieger pro Jahr nur sechs bis sieben Wochen auf Abruf bereitstehen. »Im April haben wir mit den Piloten und mit Metereologen festgelegt, über welchen Zeitraum wir in Bereitschaft sein wollen«, sagt Gaiser. Man habe sich für Anfang Juli bis Mitte August entschieden, weil es da für gewöhnlich am heißesten und die Gefahr für Gewitter mit Hagel am größten ist. Besser wäre es laut Gaiser jedoch, wenn man die komplette Hagelsaison abdecken könnte – von Mai bis September.
Ist gar kein Hagelflieger im Einsatz gewesen?
Doch – und zwar ein Hagelflieger der Württembergischen Gemeinde-Versicherung (WGV). Sie betreibt zwei Flugzeuge im Land, die bei Bedarf angefordert werden können. "Beim Unwetter am 28. Juni sind wir auf die WGV zugegangen und haben gefragt, ob sie den Hagelflieger vorbeischicken können", sagt Gaiser. Einer davon flog dann über den Landkreis Reutlingen, der andere über der Region Stuttgart. Grundsätzlich können auch andere Hagleabwehr-Vereine wie Rems-Murr-Kreis oder Schwarzwald-Baar und Tuttlingen um Hilfe gebeten werden. Beim Hagelsturm, der am 23. Juni wütete, konnten sie ihre Flieger wegen Eigenbedarf jedoch nicht abstellen. »An diesem Tag gab es in ganz Baden-Württemberg heftige Gewitterzellen. Da war auch der Hagelflieger der WGV nicht verfügbar«, sagt Gaiser.
Wie funktioniert Hagelabwehr?
Ist ein Unwetter in Sicht, informiert der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Karlsruhe tagesaktuell die Piloten der Hagelvereine darüber, dass sie an diesem Tag Bereitschaft am Flughafen haben, erklärt Gaiser. Anhand der metereologischen Daten entscheidet der Pilot, wann er startet und wohin er innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs fliegt. An den Tragflächen der Flugzeuge sind Behälter mit Silberjodid angebracht. Der Wirkstoff wird in die Wolken geimpft und soll zur Bildung kleinerer Hagelkörner führen, die im Idealfall auf dem Weg zum Boden komplett abschmelzen. Ob das wirklich funktioniert, wurde bislang nicht bewiesen. Zwar habe es laut Gaiser in umliegenden Landkreisen, in denen ein Hagelflieger bei Gewittern im Einsatz war, nicht oder nur sehr wenig gehagelt – ein Vergleich, wie es ohne Silberjodid-Impfung gewesen wäre, existiert jedoch nicht.
Wer organisiert das und wie wird das finanziert?
Nach dem großen Hagelsturm 2013 haben die jetzigen Vorstandsmitglieder Franz Eisele, Ermo Lehari, Hermann Schaufler, Uwe Alle sowie Gabriele und Gerd Gaiser im Jahr 2014 den Verein zur Hagelabwehr im Landkreis Reutlingen gegründet. Mittlerweile hat er 1 200 Mitglieder. Dazu gehören Privatpersonen, Firmen und Vereine wie »Haus und Grund Reutlingen« sowie Städte und Gemeinden (im Landkreis Reutlingen sind nur Metzingen und Grafenberg an Bord). Mit den Jahresbeiträgen werden die Kosten für die Piloten, die Miete des Hagelfliegers und die Flughafengebühren gedeckt. Monatlich sind dafür rund 27 000 Euro fällig. Ziel ist es, die komplette Hagelsaison von Mai bis September abzudecken. Das würde jährlich rund 135 000 Euro kosten. Zu diesem Betrag fehlen dem Reutlinger Verein aktuell noch knapp 100 000 Euro.
Warum macht die Stadt Reutlingen nicht mit?
Die Reutlinger Stadtverwaltung sieht das Thema Hagelflieger als »regionales Projekt«, das »weit über das Stadtgebiet hinausgeht«, sagt Pressesprecherin Sabine Külschbach. Deshalb halte man es weiter für richtig, die Finanzierung regional darzustellen. Finanzielle Unterstützung sei gegebenenfalls über die Kreisumlage zu erwarten. Schon 2014 hat die Stadt auf den Landkreis verwiesen, als es um eine Kostenbeteiligung ging, sagt Gaiser. Der Kreistag genehmigte schließlich einen einmaligen Zuschuss in Höhe von rund 40 000 Euro. In darauffolgenden Abstimmungen wurde eine langfristige Unterstützung des Vereins jedoch abgelehnt. Wie das Landratsamt nach den jüngsten Unwettern zu dem Thema steht, blieb auf GEA-Anfrage vom Freitag unbeantwortet.
Wie geht es weiter?
Seit Beginn dieser Woche ist der Reutlinger Hagelflieger einsatzbereit. Zusätzlich verzeichnet der Verein zur Hagelabwehr nach den jüngsten Unwettern einen Zuwachs an Unterstützern und damit auch an Geldgebern. »Seit dem 23. Juni gehen jeden Tag Mitgliedsanträge ein«, sagt Gaiser. Der Verein wird in den kommenden Wochen außerdem nochmal auf sämtliche Städte und Gemeinden im Landkreis zugehen und um finazielle Mittel bitten, damit der Einsatzzeitraum des Hagelfliegers verlängert werden kann, kündigt die erste Vorsitzende an. (GEA)