Logo
Aktuell Geschichte

Gestapo-Kommissar erfand sich in Reutlingen als Künstler neu

Der Gestapo-Kommissar, der vor 80 Jahren noch NS-Widerständler ermorden ließ, legte sich vor 70 Jahren in Reutlingen eine Biografie als Kunst-Experte zu.

Alfred Hagenlocher, »Herbstabend nach dem Regen«, 1949, Öl auf Hartfaserplatte, 39,5 x 50 cm, Kunstmuseum Reutlingen, Inv.-Nr. 0
Alfred Hagenlocher, »Herbstabend nach dem Regen«, 1949, Öl auf Hartfaserplatte, 39,5 x 50 cm, Kunstmuseum Reutlingen, Inv.-Nr. 00085. Foto: Kunstmuseum Reutlingen
Alfred Hagenlocher, »Herbstabend nach dem Regen«, 1949, Öl auf Hartfaserplatte, 39,5 x 50 cm, Kunstmuseum Reutlingen, Inv.-Nr. 00085.
Foto: Kunstmuseum Reutlingen

REUTLINGEN. Was zog 1945 den Nazi Alfred Hagenlocher nach Reutlingen? Wie hat es der Mann, der bei der SS und Gestapo unter anderem für die Hinrichtungen der »Widerstandsgruppe Schlotterbeck« verantwortlich war, geschafft, sich zum Kunstexperten zu wandeln? Diese Fragen ließen Dr. Werner Ströbele nach einem Besuch der Stuttgarter Gedenkstätte »Hotel Silber«, einst Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) des NS-Regimes, nicht mehr los.

Der aus Ludwigsburg stammende Hagenlocher (1914-1998) war dem langjährigen Leiter des Reutlinger Heimatmuseums und Kulturamts als überregional gerühmter Museumsmann schon lange ein Begriff. Er sei ihm aber nie persönlich begegnet, wie der Vorsitzende des Reutlinger Geschichtsvereins jüngst bei einem gut besuchten Vortrag im Saal der VHS erklärte. Um dem »erstaunlichen Wandel« in Hagenlochers Lebenslauf nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Grund zu gehen, forschte Ströbele nicht nur in Staats- und Stadtarchiven, sondern auch in Unterlagen der Sozialämter sowie persönlichen Briefen, die ihm Hagenlochers Nachfahren zugänglich gemacht haben.

Ambivalente Persönlichkeit

Zum Vorschein kam dabei eine ambivalente Person »mit massiver schuldhafter Verstrickung im NS-Regime«. Seine Biografie scheint beispielhaft für viele NS-Täter in der deutschen Nachkriegszeit. Die Öffentlichkeit in Reutlingen habe von Hagenlochers dunkler Vergangenheit lange nichts gewusst oder wissen wollen, erklärt Ströbele. So gelang ihm die wundersame Reinkarnation als Schöngeist. Durch Verschleiern, Verharmlosen, Verleugnen und offene Lügen - auch gegenüber Behörden.

Alfred Hagenlocher (rechts) bei der Übergabe der Hans-Thoma-Medaille an A.-Paul Weber 1963 im Heimatmuseum in Reutlingen.
Alfred Hagenlocher (rechts) bei der Übergabe der Hans-Thoma-Medaille an A.-Paul Weber 1963 im Heimatmuseum in Reutlingen. Foto: Stadtarchiv Reutlingen
Alfred Hagenlocher (rechts) bei der Übergabe der Hans-Thoma-Medaille an A.-Paul Weber 1963 im Heimatmuseum in Reutlingen.
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

»Manipulation war sein Handwerk«, meint Dr. Julia Berghoff, die als Geschäftsführerin des Kunstvereins Reutlingen an der Aufdeckung von Hagenlochers Rolle in dessen Vorgängervereinigung, der Hans-Thoma-Gesellschaft, beteiligt ist. Nachdem Hagenlocher 1950 in Reutlingen erstmals selbst als Künstler mit Größen wie HAP Grieshaber, Gudrun Krüger, Winand Victor und Anton Geiselhart ausgestellt hatte, war er von 1953 bis 1978 »Präsident« der von Frankfurt nach Reutlingen verlegten Gesellschaft. Er organisierte jährlich zwei bis drei Ausstellungen - erst mit von den Nationalsozialisten gefeierten Malern und Bildhauern, später auch mit opportun wirkenden Vertretern der Moderne: Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, August Macke, Otto Dix. »Alles deutsche Künstler«, hat Ströbele festgestellt. Auch später als Gründungsdirektor des Albstädter Kunstmuseums und des Volkskunstmuseums in Meßstetten galt: Jüdische Künstler waren ausgeschlossen.

Charakterlich galt er als roh, taktlos und herrschsüchtig, dennoch erhielt er zahlreiche Ehrungen - bis hin zur Staufer-Medaille 1994. Nur das Bundesverdienstkreuz, für das ihn 1974 der Meßstetter Bürgermeister vorgeschlagen hatte, blieb ihm verwehrt. Ein Hinweis des Berlin Document Center, wo die Mitgliederdatei der NSDAP und Personalakten der SS aufbewahrt wurden, verhinderte dies. »An die Öffentlichkeit kamen diese Hinweise aber nicht«, betont Ströbele.

Hagenlochers frühe NS-Karriere

Der Schulabbrecher Hagenlocher war 1930 als 16-Jähriger zur HJ gestoßen. Mit 17 wurde er Mitglied der NSDAP. Zwischen 1933 und 1944 durchlief er »die typische Laufbahn eines SS-Mannes« - bis zum Obersturmführer. 1937 wurde er in die Gestapo aufgenommen und kam 1942 ins Hauptquartier der für brutale Foltermethoden berüchtigten und letztlich für den Holocaust verantwortlichen Geheimpolizei nach Stuttgart. Anders als später in seiner idealtypisch frisierten Biografie behauptet, war Hagenlocher in Wien, München und Berlin als Gestapo-Mann, nicht als Kunststudent.

Hagenlocher 1938 in Wien, Slg. Jörg Hagenlocher
Hagenlocher 1938 in Wien, Slg. Jörg Hagenlocher Foto: privat
Hagenlocher 1938 in Wien, Slg. Jörg Hagenlocher
Foto: privat

Nach Kriegsende versteckte er sich mithilfe der nationalsozialistischen Untergrundorganisation Elsa in einer Hütte im Schönbuch bei Walddorfhäslach. Den französischen Besatzungstruppen blieb seine NS-Täterschaft wohl durch eine falsche Identität verborgen. Obwohl er damals in erster Ehe mit Irene verheiratet war und vier zwischen 1940 und 1945 geborene Kinder hatte, vermerkte das Sozialamt Stuttgart 1949 eine Beziehung nach Reutlingen: Hagenlocher habe dort ein Verhältnis mit einer Frau, »die er für sein künstlerisches Schaffen benötige«.

Die wundersame Wandlung

Das war Elvira Schneider, geborene Jakob, Friseurgehilfin, die 1940 von Plauen hergezogen war und den Friseur Ernst Schneider geheiratet hatte. Während der als Soldat in russischer Gefangenschaft saß, hat Alfred Hagenlocher bei »Ev«, die er in Briefen auch »Dule« nannte, in der Benzstraße gewohnt.

Hagenlocher hatte weder eine akademische Kunstausbildung noch war er Autodidakt: Die Wandlung vollzog sich in gerade mal einem Jahr in amerikanischer Internierungshaft. Nachdem er in Darmstadt Kunstkurse bei Wilhelm Renfordt besucht hatte, enthüllte er in einem Brief an Ev: »Mein ganzes Leben, nach dem, was zusammenbrach, hat nur noch Sinn im tiefsten innersten Erleben, Tun und Gestalten, im Guten und Reinen.«

Seine Berichte zeigten »Fähigkeiten, aber auch eine gewisse Hybris«, meint Ströbele. »Zwischen seinem Einsatz in der NS-Zeit und in der Kunst erkannte er keinen Unterschied.« Seine Tochter Ingrid Hagenlocher-Riewe bestätigt: »Er hat gebrannt für den Nationalsozialismus.« Auch nach dem Krieg habe er »seine Gesinnung nicht wesentlich geändert«.

Stationen in Reutlingen

Nachdem Hagenlocher endgültig nach Reutlingen gezogen war, wohnten Ev und er in der Reutlinger Jakobstraße 9. Er lebe »auf Kosten seiner Braut«, vermerkte das Sozialamt. Wie seine erste Frau und die vier gemeinsamen Kinder in Weilimdorf erhielt der Mann, der sich als zu 80 Prozent »erwerbsbeschränkt« ausgab, zwischen 1949 und 1957 Beihilfe. Von gesundheitlichen Beschwerden war später nicht mehr die Rede, gibt der Geschichtsvereinsvorsitzende zu Bedenken. Zugleich inszenierte sich der Gestapo-Mann nun als anerkannter Maler, Grafiker, Bildhauer sowie - nach einem Artikel im GEA - als Schriftsteller.

Dr. Werner Ströbele vom Geschichtsverein hielt in der Reutlinger VHS einen vielbeachteten Hagenlocher-Vortrag.
Dr. Werner Ströbele vom Geschichtsverein hielt in der Reutlinger VHS einen vielbeachteten Hagenlocher-Vortrag. Foto: Claudia Reicherter
Dr. Werner Ströbele vom Geschichtsverein hielt in der Reutlinger VHS einen vielbeachteten Hagenlocher-Vortrag.
Foto: Claudia Reicherter

Im Rahmen der Entnazifizierung zunächst als »Hauptschuldiger« des NS-Terrors eingestuft, wurde das Spruchkammerverfahren gegen ihn nach mehrfachen Einsprüchen 1951 eingestellt - »wie das damals häufig der Fall war«, sagt Ströbele - für uns heute ist das trotzdem unverständlich.

Stolz, aber zurückhaltend

Welche Rolle spielten bei Hagenlochers Aufstieg die Stadt und der damalige OB Oskar Kalbfell? Auch wenn der Reutlinger Kulturamtsleiter 1954 den damals 40-Jährigen menschlich positiv einschätzte, hielt sich die Stadt finanziell zurück: Pro Ausstellung erhielt Hagenlocher rund 500 D-Mark, 1958 für Macke 2.000 Mark zusätzlich. Der OB setzte sich zwar dafür ein, dass er mit seiner schwangeren Frau 1960 aus den beengten Verhältnissen der Markusstraße 19 rauskam - »Kalbfell hatte ihm das Landjägerhaus in der Spendhausstraße 3, das heute die Verwaltung des Kunstmuseums beherbergt, versprochen, wo er im März 1962 auch einzog«, berichtet Ströbele - doch sonst war der Beitrag der Stadt »eher bescheiden«.

Ausstellung in Stuttgart

Die Sonderausstellung im Erinnerungsort »Hotel Silber« in Stuttgart beleuchtet die schwierige und schwerfällige Aufarbeitung der Taten der Geheimen Staatspolizei im Nationalsozialismus: »Gestapo vor Gericht – Die Verfolgung von NS-Verbreche(r)n« blickt darauf, wem der Prozess gemacht wurde und wem nicht, wer ins Gefängnis musste und wer trotz seiner Gräueltaten unbehelligt weiterleben konnte. Die Ausstellung zeigt, warum die strafrechtliche Verfolgung in der Bundesrepublik so schleppend verlief.

Die Gestapo war an nahezu allen nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt: Misshandlungen, Deportationen, Verfolgung, Morde.

Verfahren wie der Auschwitz-Prozess lösten gesellschaftliche Diskussionen über den Umgang mit der NS-Vergangenheit aus: Ist die Durchsetzung des Rechts oberstes Gebot? Oder soll sie im Land der Täter gegen den »gesellschaftlichen Frieden« abgewogen und ein Schlussstrich gezogen werden? Wie lange nach der Tat ist Sühne sinnvoll? (GEA)

https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gestapo-ausstellung-stuttgart/

Auch wenn sich Reutlingen 1965 stolz auf den Ruf als kunstfreundliche Stadt gab, sei Alfred Hagenlocher nicht eigens erwähnt worden. Der beklagte sich prompt über mangelnde Anerkennung. Und zog 1971 - nun mit seiner dritten Frau und Kind, denn Elvira war 1968 gestorben - auf den Fehlochhof bei Meßstetten. Was seinem romantischen Sehnsuchtsort entsprach, wurde für die 25 Jahre jüngere Brigitte Wagner »aber zu einem schwierigen Ort«, wie Ströbele sagt.

Große Reutlinger Künstler wie HAP Grieshaber und Geiselhart, die Hagenlocher ablehnten, mögen das Dunkle und Düstere in dessen Vita durchaus durchschaut haben. Klar spiegeln dies aus Ströbeles Sicht seine späteren Werke: »Der Schweigende«, »Pferd und Tod« oder »Das Unheil«. Im Besitz der Stadt befindet sich aber nur die frühe, romantisierende Alb-Landschaft »Herbstabend nach dem Regen« aus dem Jahr 1949. (GEA)