Und »Wir in Reutlingen« (WiR) wäre nicht weiterhin mit drei Räten vertreten, sondern nur mit zweien: Professor Jürgen Straub (7 931 Stimmen) und Dr. Sven Fischer (4 509). Die ehemalige Mitbegründerin der Freien Mitte und frühere Gemeinderätin Ute Beckmann (4 272) verdankt ihren neuerlichen Einzug ins Stadtparlament also auch dem neuen Zählverfahren.
Auch bei Bund und Land
Beide Verfahren – alt wie neu – dienen bei der sogenannten Verhältniswahl dazu, die Sitze der jeweiligen Listen dem von ihnen erzielten prozentualen Ergebnis zuzuordnen. Die Methode nach dem belgischen Rechtswissenschaftler Victor d’Hondt (1841–1901) kam auch bei Bundestags- und Landtagswahlen zur Anwendung. Ihr Nachteil: Sie kann, so der Bundeswahlleiter, »bei starken Größenunterschieden der Anteile der Parteien zu größeren Abweichungen von der Verhältnismäßigkeit führen, wobei kleinere Parteien benachteiligt werden«.Deshalb verabschiedete man sich bei den Bundestagswahlen bereits 1987 von d’Hondt und setzte vorübergehend auf ein Verfahren nach Hare/Niemayer, das aber auch seine Tücken hatte.
Seit 2009 nun wird die Sitzverteilung bei Bundestags- und Europawahlen nach Sainte-Languë/Schepers vorgenommen, um besagter Benachteiligung der kleinen Parteien oder Gruppierungen entgegenzuwirken. 2011 führte Baden-Württemberg das neue System auch für die Landtagswahlen ein, und bei den Kommunalwahlen kam es dieses Jahr erstmals zur Anwendung.
Mit der logischen Konsequenz – weil die Benachteiligung der kleinen Parteien somit passé ist –, dass die größeren dieses Mal Abstriche hinnehmen mussten. So blieb der Reutlinger CDU, die sich von 25,9 Prozent Gesamtstimmenanteil bei der vorigen Wahl auf 28,9 Prozent in diesem Jahr verbessert hatte, das zusätzliche zwölfte Mandat verwehrt.
Der Leidtragende ist Reiner Linsenbolz, Direktor des Reutlinger Friedrich-List-Gymnasiums, der mit seinen 9 952 Stimmen nun aber zumindest die Chance hat, bei einem personellen Wechsel innerhalb der Fraktion während der Amtsperiode des neuen Rates als erster Ersatzbewerber nachzurücken. Wie berichtet, schien der zwölfte CDU-Sitz bis unmittelbar vor Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses gesichert. Erst nach der Auswertung des letzten von 86 Wahlbezirken, kippte er weg – in Richtung FDP.
Der CDU fehlten 762 Stimmen
Die unmittelbar nach der Gemeinderatswahl auf Facebook gepostete Zahl von 35 Stimmen, die der CDU gefehlt hätten, um den zwölften Sitz zu bekommen, stimmt aber nicht. Nach Auskunft des städtischen Wahlbüros hätten die Christdemokraten insgesamt 762 Stimmen mehr gebraucht.Die SPD hat das neue Auszählungsverfahren einen Sitz gekostet – namentlich den des amtierenden Stadtrats Dr. Lutz Binder (9 190 Stimmen). Seit 1994 verfügte sie konstant über neun Mandate, ab der neuen Amtsperiode des Gemeinderats – konstituierende Sitzung ist am 29. Juli – sind es nur noch acht. Zwar verschlechterte sich die SPD bei der Gesamtstimmenzahl gegenüber 2009, aber mit aktuell 20,1 Prozent nur geringfügig um 0,5 Prozentpunkte.
Grüne gewinnen
Die Freude der kleineren Gruppierungen über die nun ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber dem d’Hondt’schen Verfahren teilen die Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD nicht wirklich. Andreas vom Scheidt, CDU, verweist insbesondere auf die Grünen: Sie verbesserten ihr Ergebnis ebenfalls, aber nur um zwei Prozentpunkte, gewannen aber einen Sitz, den siebten hinzu.Für die CDU hat der Fraktionschef gemessen am Gesamtstimmenanteil eine rechnerische Sitzzuweisung von 11,56 Sitzen ermittelt – was dann durch Abrundung zu elf Mandaten wurde. Das sei ein Alleinstellungsmerkmal für die Christdemokraten, denn bei allen anderen Listen habe der Rundungsprozess keine negativen Auswirkungen gehabt. Mehr noch: Um einen Sitz zu erhalten, habe die CDU-Liste in der Summe 30 314 Stimmen benötigt, die FDP-Liste hingegen nur 24 221 Stimmen.
Auch auf die Differenzen bei der Auswertung der persönlichen Ergebnisse der Bewerber weist vom Scheidt hin: So habe ein CDU-Kandidat 10 174 Stimmen benötigt, um noch ein Mandat zu erhalten, während bei den Linken 3 887 Stimmen genügten. Das jedoch liegt weniger am Verfahrenswechsel als am Grundprinzip: »Ein Vergleich mit den Stimmenzahlen von Bewerbern anderer Wahlvorschläge findet nicht statt«, heißt es in einer von Hauptamtsleiter Hartmut Queisser zitierten Handreichung, »sodass es durchaus Bewerber anderer Listen geben kann, die mit einer höheren Stimmenzahl keinen Sitz erreicht haben.« Das müsse bei der Verhältniswahl als »unvermeidlich in Kauf genommen werden«.