REUTLINGEN. Zunächst hatte das Schöffengericht im Reutlinger Amtsgericht einen von zwei Angeklagten im Prozess um eine Drogenparty in einem Innenstadt-Hotel gar nicht zu Gesicht bekommen - denn der 38-Jährige ist beinamputiert und konnte wegen des defekten Fahrstuhls im Gerichtsgebäude zum Prozessauftakt im Mai nicht in den Sitzungssaal im Hochparterre gelangen. Zumal sich sein Rollstuhl als so zerschlissen erwies, dass er auch nicht die Treppe hochgewuchtet werden konnte. Die Verhandlung gegen den Mitangeklagten des 38-jährigen Reutlingers war deshalb abgetrennt worden. Jener ist inzwischen rechtskräftig verurteilt, wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und illegalen Besitzes einer Schusswaffe.
Dass die beiden am 17. Januar 2024 in einem Hotelzimmer in der Reutlinger Innenstadt zusammen mit einem Dritten Drogen genommen haben, war auch im Prozess gegen den Bürger- und Pflegegeldempfänger im Rollstuhl unstrittig. Dass dort beide mit Kokain und Ecstasy dealten, wovon die Staatsanwaltschaft zunächst ausging, ließ sich im Fall des schwerbehinderten Angeklagten nun aber nicht nachweisen. Als der Fahrstuhl im Gericht repariert war, haben der Vorsitzende Richter Eberhard Hausch und die beiden Schöffen auch ihn zumindest an zwei von drei Terminen gesehen und angehört. Anders als der gleichaltrige gebürtige Waiblinger war der in Bietigheim-Bissingen geborene Angeklagte jedoch nicht geständig, sondern beharrte: »Ich hab' nichts gemacht.«
»Sie haben beim letzten Mal einen verballerten Eindruck gemacht, aber ein Bombengedächtnis«
Im September hatte das Gericht den Beinamputierten zwischen wegdämmernd und hellwach erlebt. Trotz einer offensichtlichen Augeninfektion und scheinbarer Intoxikation argumentierte er herausfordernd und klar, auch wenn er körperlich verwahrlost und zudem konfus schien, als er über seinen Anwalt ankündigen ließ, er äußere sich nicht, dann aber immer wieder dazwischenredete. Auf die Frage, weshalb er überhaupt ein Hotelzimmer angemietet habe, erklärte die als Zeugin geladene Rauschgiftermittlerin, das werde »in der Szene gern gemacht, um ungestört dem Konsum nachzugehen«. Worauf der Angeklagte, dem sein Verteidiger trotz des »verballerten Eindrucks« ein »Bombengedächtnis« attestierte, konterte: »In meine Wohnung wurde eingebrochen, das müsstet Ihr doch wissen, es wurde Anzeige erstattet.« Beim zweiten Verhandlungstermin im Oktober trat er aufgeräumter auf. Und beteuerte erneut: Die Medikamente waren ärztlich verordnet, die Telefonauswertung ergab keine Hinweise auf illegalen Handel.
Am Mittwoch, 5. November, wurden nach drei Kripo- und Drogenermittlern sowie dem bereits verurteilten Dealer zwei weitere Zeugen gehört: seine ehemalige Hausärztin, die ihm allerdings 2016 zum letzten Mal das Schmerzmittel Rivotril verschrieben hatte, von dem er am betreffenden Tag noch 52 Tabletten dabeihatte, und der dritte im Hotel aufgegriffene Drogensüchtige, der ebenfalls zurzeit im Gefängnis sitzt. Dieser, ein 43-Jähriger, bestätigte, er sei vom Angeklagten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in dessen Hotelzimmer eingeladen worden, um sich »ein bisschen zu vergnügen«. Wer genau den Stoff auspackte, »um was zu ziehen und zu rauchen«, könne er nicht sagen. Er hatte sein eigenes Amphetamin dabei, einen Deal habe er nicht beobachtet.
So änderte die Staatsanwältin den Vorwurf vom gemeinschaftlichen Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie verschreibungspflichtigen Arzneimitteln bei dem 38-jährigen Angeklagten zum bloßen BTM- und Medikamentenbesitz - und forderte dafür wegen zahlreicher, auch einschlägiger, Vorstrafen sechs Monate Haft. Ohne Bewährung. Trotz seines »erheblichen Handicaps«. Sie gehe davon aus, dass das Problem der Drogen- und Tablettenabhängigkeit weiter bestehe. Der Verteidiger verwies auf die anhaltenden schweren Schmerzen seines Mandanten und dessen Kooperation im Verfahren. Er plädierte auf Freispruch. Das Gericht verurteilte den 38-Jährigen, aber nicht fürs Dealen, sondern lediglich für den Besitz illegaler Drogen. Dafür sei eine Geldstrafe angemessen. Nur wenn der arbeitsunfähige Rollstuhlfahrer die 90 Tagessätze à 15 Euro und die Kosten des Verfahrens nicht bezahlen kann, müsste er für 45 Tage »einsitzen«, erklärte Richter Hausch. Er kann gegen das Urteil noch Rechtsmittel einlegen. (GEA)
Im Gerichtssaal
Vorsitzender Richter: Eberhard Hausch. Schöffen: Dr. Utz Wagner, Ankica Dragicevic. Staatsanwältin: Stefanie Siewert-Schatz. Verteidiger: Steffen Kazmaier. (dia)

