REUTLINGEN. Das Polizeiaufgebot, das sich am Samstag am frühen Nachmittag rund um die Stadthalle formiert, ist immens. Es dürften Hunderte Beamte sein, die auf ihren Einsatz warten. Die Polizei rechnet mit nicht genehmigten Aktionen von Gegnern und Skeptikern der Corona-Politik. Geplant sind darüber hinaus zwei genehmigte Veranstaltungen, die um 16 und 18 Uhr auf dem Marktplatz stattfinden sollen. Um 22.50 Uhr wird ein Polizeisprecher bestätigen, dass das Polizeipräsidium Reutlingen mit Unterstützung des »Polizeipräsidiums Einsatz« und des Polizeipräsidiums Stuttgart rund 700 Einsatzkräfte vor Ort hatte.
Wasserwerfer kommen am Ende aber genauso wenig zum Einsatz wie die Pferde der Reiterstaffel. Ein langer Tag steht den Beamten trotzdem bevor. Insgesamt werden vier Straftaten und ungezählte Beleidigungen gegen Einsatzkräfte registriert. Bis 21 Uhr werden 500 Platzverweise erteilt. Zu Gewaltausbrüchen wird es nicht kommen, obwohl sich die Situation im Laufe des Abends zuspitzt. Aber noch ist es ruhig.
Es ist kurz nach 14 Uhr. Auf dem Marktplatz räumen Marktbeschicker ihre Stände zusammen. Der »Gitarren-Karle«, ein Straßenmusiker, glampft alte Rocksongs. Die erste Versammlung ist für 16 Uhr geplant. Sie wird organisiert vom Bündnis »Gemeinsam & Solidarisch gegen Rechts Reutlingen und Tübingen«. Zwei Stunden später sind es etwa 200 Teilnehmer, die den Rednern zuhören, darunter Beiträgen der Linkspartei, dem »Offenen Treffen gegen Faschismus und Rassismus Tübingen und die Region«, der Seebrücke und der Verdi Jugend.
Reutlingen dürfe nicht zum Hort der Querdenkerproteste werden, so die Veranstalter, die sich unter anderem auf die Geschehnisse vom vorvergangenen Samstag beziehen. 1 500 Gegner und Skeptiker der Corona-Maßnahmen hatten eine Kundgebung, einen sogenannten »Lichterspaziergang für Frieden, Freiheit, Wahrheit und Demokratie« organisiert und planten Ähnliches auch für diesen Samstag – was die Stadt Reutlingen und das Landratsamt noch am Freitag verboten hatten.
Einer der Redner ist Rüdiger Weckmann von der Linken Liste, der sich unter anderem zur Impfpflicht äußert. Er sehe darin einen Akt der Verzweiflung, der eventuell nicht mehr zu vermeiden sei, weil sich die Fehler der Vergangenheit nicht mehr korrigieren ließen. Rüdiger Weckmann appelliert, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und politischen Abstand zu halten von Querdenkern und Rechtsradikalen.
Moderatorin Maite vom »Bündnis gegen Rechts« warnt vor den Folgen einer Entsolidarisierung, »die durch die Querdenker- und Corona-Leugner vorangetrieben wird«. Anton Felix vom »Offenen Treffen gegen Faschismus und Rassismus Tübingen und die Region« zeigt Verständnis für die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Politik, »die das Gesundheitssystem kaputt spart, Impfstoffpatente nicht freigibt und die Wirtschaft auf Kosten der Menschen möglichst ungestört weiter laufen lässt«.
Die Polizei positioniert sich währenddessen an den Einfallsstraßen in die Reutlinger Innenstadt. Überall in den Seitengassen stehen Einsatzfahrzeuge. Im Internet kursieren Pläne von Coronaleugnern und Impfgegnern, wie die Sperren in Richtung Innenstadt umgangen werden könnten. Auch auf dem Marktplatz zeigen Beamte Präsenz. Gegen 17 Uhr endet die erste Aktion.
Eine Stunde später sind es bei der zweiten, ebenfalls genehmigten Versammlung, deutlich mehr Teilnehmer. Wie viele es sind, lässt sich schwer abschätzen. Es dürften zwischen 800 und 1.000 Menschen sein, die dicht gedrängt und maskengeschützt zusammenstehen. Das Treffen ist überschrieben mit »Reutlingen zeigt Herz – Maske auf, Herz drauf, zusammenstehen«. Federführend sind »Akteure der Zivilgesellschaft«.
Obwohl auch zahlreiche Lokalpolitiker die Aktion unterstützen, handelt es sich nicht um ein Parteienbündnis. Auch diese Versammlung wird damit begründet, dass Reutlingen in den vergangenen Wochen wegen Corona-Demos verstärkt in die Schlagzeilen geraten ist, während viele Menschen ihren Beitrag und einen hohen persönlichen Einsatz leisteten, um die Pandemie zu bewältigen.
Es gelte, dem anderen Gesicht Reutlingens Öffentlichkeit zu verschaffen und denen Sichtbarkeit zu geben, die sich in der Pandemie solidarisch zeigen. »Wir wollen zeigen, dass Reutlingen solidarisch ist und zusammensteht«, so das Motto. »Das ist das Bild unserer Stadt, und nicht das vom letzten Samstag«, freut sich Stadtrat Dr. Karsten Amann (Grüne und Unabhängige) über die große Resonanz. Dann bilden die Teilnehmer ein großes Herz und zollen durch minutenlanges Klatschen denjenigen Respekt, die sich für an Covid Erkrankte und für Solidarität in der Gesellschaft einsetzen.
Eine ursprünglich geplante Menschenkette vom Marktplatz bis zum Reutlinger Bürgerpark wird kurzfristig abgesagt. Die Einsatzkräfte der Polizei sollen nicht zusätzlich belastet werden. Nach einer halben Stunde löst sich auch diese Versammlung auf. Es ist zu keinen Zwischenfällen gekommen. Doch dann spitzt sich die Lage zu.
Erste Hinweise darauf gibt es unter anderem in der Katharinenstraße. Zehn Beamtinnen und Beamte sperren beim Tübinger Tor den Zugang zur Innenstadt. Nur einem vielleicht vierjährigen Steppke gelingt der Durchbruch – zumindest fast, weil ihn der Vater und ein Beamter gerade noch zu fassen kriegen, als der Knirps loszuspurten beginnt.
Ein Grund für die kurzfristige Sperrung wird nicht genannt. Ob sie damit zusammenhängt, dass mehr als ein Dutzend Polizeifahrzeuge um 18 Uhr mit Blaulicht die Alteburgstraße hinauffahren, weiß zunächst keiner der Passanten. Aber schon Minuten später wird klar, was die Polizei alarmiert hat.
Etwa 1.000 Teilnehmer einer Gegenveranstaltung marschieren auf der Lederstraße in Richtung Pfullingen. Nach wenigen wenigen Metern werden sie von massiven Polizeikräften angehalten. Die Demonstranten drehen um und werden im Bereich des Oskar-Kalbfell-Platzes und der unteren Alteburgstraße von einem großen Polizeiaufgebot umschlossen.
Die meisten Demonstranten tragen keine Masken. Dann bewegt sich die Spitze der Versammlung Richtung Zentralem Omnibusbahnhof. Etliche Demonstranten singen die Nationalhymne, andere haben Lichter mitgebracht. Viele skandieren »Friede, Freiheit, keine Diktatur«.
Die Polizei hat die Lederstraße komplett abgesperrt. Autofahrer – auch Stadtbusse – drehen an der alten Feuerwache um. Der Stau geht jetzt in Richtung Pfullingen. Die Stimmung ist angespannt, aber friedlich. Die Polizei ruft die Demonstranten dazu auf, heimzugehen. Kaum jemand leistet dem Aufruf Folge. Es ist 19.30 Uhr.
Schätzungsweise 50 Personen, die von der Karlstraße in die Kaiserstraße abbiegen, werden von der Polizei aufgehalten. Dabei kommt es laut Polizeiangaben zu einem tätlichen Angriff und zu Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte. Die Tatverdächtigen werden vorübergehend festgenommen. Einer der Beschuldigten klagt über Kreislaufprobleme. Ein Krankenwagen muss angefordert werden. Als weitere Polizeikräfte eintreffen, zerstreut sich die Personengruppe.

Am Oskar-Kalbfell-Platz stehen zur gleichen Zeit zwar immer noch Teilnehmer der nicht genehmigten Versammlung der Corona-Maßnahmen-Gegner, aber deutlich weniger als noch vor einer Stunde. Es dürften knapp 400 sein. Es wird bis spät in die Nacht dauern, bis die Polizei ihre Personalien aufgenommen hat. Ihnen droht wegen der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung ein Bußgeld von bis zu 500 Euro.
Um kurz vor 21 Uhr sieht der Reutlinger Marktplatz aus, als habe es keine Demonstrationen und keine Gegendemonstrationen gegeben. Der Weihnachtsbaum strahlt, der Heiligabend kann kommen. (GEA)