REUTLINGEN. »Richtig dramatisch« findet Nathalie Dennenmoser den Fall eines Mitte-20-Jährigen, der vor etwa zwei Jahren erstmals den Weg zu ihr in die Drogenberatung fand. Zum Schutz von dessen Familie soll der Klient anonym bleiben. Nur so viel: Übers Kiffen als Jugendlicher und die Partyszene war er etwa zwei Jahre zuvor erstmals mit Heroin in Berührung bekommen. Er hat viele Tätigkeiten ausprobiert, aber keine Ausbildung abgeschlossen. »Der war in so einer Schleife, wurde immer wieder straffällig, sodass auch mal eine Haftstrafe drohte.« Irgendwann wurde es seiner »cleanen« Freundin zu viel. Als sie sich von ihm trennte, folgte ein akuter Absturz. Die heutige Leiterin der Reutlinger Jugend- und Drogenberatung des Baden-Württembergischen Landesverbands für Prävention und Rehabilitation (BWLV) hatte den Eindruck: »Dieser junge Mann braucht dringend eine psychiatrische Diagnostik.«
Das Problem: Durch eigene Ansprüche, gefördert von einem »sehr leistungsorientierten Elternhaus«, ließ er sich zunächst auf keine Behandlung ein. Da hätte er seine Sucht nicht mehr verbergen können. Als teilweise funktionaler Abhängiger, der exzessiv Sport trieb, wollte er alleine von den harten Drogen wegkommen. Rückfälle folgten. Nachdem sie ihn übers Streetworking wiedergetroffen hatte, konnte sie ihn schließlich doch dazu bewegen, erneut die Beratungsstelle in der Albstraße 70 aufzusuchen. Der Therapieantrag - »ein Riesenaufwand« - war just genehmigt, ein Therapieplatz in Aussicht, als der junge Mann an einer Überdosis starb. Er hatte »irgendwelche komischen Opioide« erwischt, vermutet die 41-Jährige. Genau lasse sich das nicht sagen, denn in solchen Fällen veranlasse die Polizei kaum Obduktionen.
Vakuum auf dem Drogenmarkt
Nathalie Dennenmoser schildert sein Schicksal, da es für eine ganze »Welle« steht, die gerade auf uns zurollt. Denn ein Vakuum, das auf dem internationalen Drogenmarkt entstand, als die Taliban im April 2022 den Anbau von Schlafmohn in Afghanistan verboten, füllen nun vermehrt synthetische Substanzen mit euphorisierender und schmerzlindernder Wirkung. Statt dem aus Mohn gewonnenen Opium und Heroin nehmen Suchtkranke nun einst zu medizinischen Zwecken entwickelte, aber nicht zugelassene Drogen wie Carfentanyl und sogenannte Nitazene. Die werden unter anderem »im Internet in seriös wirkenden Shops« angeboten - haben aber die 100- bis 10.000-fache Wirkung wie Heroin auf Körper und Psyche.
Bereits im Sommer warnte die Uno vor dieser »neuen Gruppe synthetischer Drogen, die noch gefährlicher sind als Fentanyl«. Nitazene hätten schon »zu einer Zunahme von Drogentoten geführt«, teilte das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung mit. Seit September 2024 wurden in Bayern mindestens sieben Opfer von Überdosierungen auf synthetische Opioide zurückgeführt. Nun warnt auch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA) vor diesen »Neuen psychoaktiven Stoffen« (NPS). Die umgangssprachlich auch »Badesalze« genannten Drogen seien nur vermeintlich harmlos. »Wegen den neu entwickelten chemischen Strukturen« gebe es bislang »keine Erkenntnisse, in welcher Konzentration diese Stoffe welche Wirkung erzielen«. Da sie neu sind, fallen sie auch noch nicht unter die gesetzlichen Verbote.
»Das Thema brennt«, betont die Reutlinger Drogenberaterin. »NPS sind in der Region angekommen.« Vor allem Wechselwirkungen mit anderen Betäubungsmitteln seien unkalkulierbar. Wer damit gestrecktes Heroin konsumiert, gerät schneller als bisher in Lebensgefahr. »Schon Minimengen sind hochgefährlich.« Forensische Daten fehlen noch, aber: »Wir verzeichneten schon einige Todesfälle in letzter Zeit.« Dazu komme eine enorm hohe Dunkelziffer.
Umso wichtiger: Prävention. »Suchtgefährdete Menschen sollten viel früher erreicht werden«, warnt Nathalie Dennenmoser. Positiv für Schwerstabhängige und zur Verringerung des Risikos einer Überdosis durch Nitazene sei die »Assistenz im eigenen Wohn- und Sozialraum«, die BWLV und PSB Reutlingen anbieten (psb-reutlingen@bw-lv.de@bw-lv.de). Es gibt auch Tests, um die Zusammensetzung von Drogen zu prüfen, »doch wer soll die bezahlen?« Aktuell ist die BWLV-Drogenberatung pro Jahr mit rund 200 Opioid-Abhängigen in Kontakt. Die kommen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten, vom Arzt bis zu »Menschen mit hoher Verelendung«, aus Reutlingen und der ganzen Region. (GEA)