REUTLINGEN-GÖNNINGEN. Die Gönninger waren ihren Zeitgenossen in Sachen Weltoffenheit schon im 19. Jahrhundert weit voraus. Zahlreiche Gönninger besaßen um 1850 nämlich bereits einen Reisepass, was den Samenhändlern weite Reisen auf den Handelswegen erlaubte. Dadurch lernten sie die Welt und andere Kulturen kennen und brachten Saatgut und Blumenzwiebeln in die Heimat mit. Diese Weltoffenheit und gleichzeitige Verwurzelung in der Heimat ist ihnen geblieben, was nicht zuletzt jedes Jahr beim Tulpensonntag sichtbar wird. Am Sonntag kamen wieder tausende Besucher, um das Wunder der Tulpen in der Reutlinger Bezirksgemeinde zu bestaunen. Unter ihnen auch der geschäftsführende Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), der nicht nur den ökumenischen Gottesdienst und die offizielle Eröffnung besuchte, sondern bei einem Rundgang im Samenhandelsmuseum die Historie des Ortes erkundete.
Lob für Jes-Projekt der Viertklässler
»Mit den Tulpensonntagen machen sie die Welt ein Stück schöner, bunter und fröhlicher«, bescheinigte Özdemir den Gönningern bei seiner Eröffnungsrede. Da schloss er auch die Jugend mit ein, die mit ihrem Engagement und dem Jes-Projekt der Viertklässler an der Roßbergschule (»Jugend engagiert sich sozial«) nicht nur die Tradition hochhalte, sondern auch ihre Verbindung zur Natur und zum Erhalt der Landschaft deutlich mache. Es sei dem Engagement des Vereins Gönninger Tulpenblüte zu verdanken, dass die spannende Geschichte dieses außergewöhnlichen Fleckens lebendig gehalten werde.
Mit der 2017 erstmals eingeführten Saatgutbörse für alte Sorten leisten die Gönninger, so Özdemir, einen wichtigen Beitrag für Biodiversität und Nachhaltigkeit. »Unser Land ist nicht arm an Traditionsveranstaltungen. Aber der Gönninger Tulpensonntag ist etwas ganz Besonderes.« In diesem Zusammenhang erwähnte Özdemir auch das Streuobstwiesenprojekt, das der Verein Gönninger Tulpenblüte im vergangenen Herbst ins Leben gerufen hat. Mit dem Projekt gebe der Verein wertvolles Wissen weiter und stärke das Bewusstsein für die Beachtung und den Schutz von Landschaft und Natur.
Bezirksbürgermeisterin Claudia Gumpper und der Vorsitzende des Vereins Gönninger Tulpenblüte, Heinz Gerstlauer, hatten zu Beginn des ersten Tulpensonntags in diesem Jahr die Besucher in der »Tulpenhauptstadt Deutschlands« begrüßt. Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck bekannte, er freue sich jedes Jahr auf den Tulpensonntag. Gönningen sei ein Ausnahmeort. Auch deshalb, weil die Gönninger schon immer mobil und global vernetzt waren.
Freiwillige Helfer bei Pflanzaktionen
Rund 50.000 Tulpenzwiebeln aus 150 Sorten werden jeden Herbst auf öffentlichen Plätzen und Anlagen, auf dem Friedhof und an den Ortseingängen gepflanzt. Viele freiwillige Helfer aus Vereinen, Kirchengemeinden, Kindergärten und Schulen sind bei den Pflanzaktionen dabei. Ein wahres Blumenmeer, das die Besucher jedes Jahr empfängt. Mitte des 19. Jahrhunderts war knapp die Hälfte der Gönninger auf Handelswegen in Europa und bis Amerika unterwegs, sogar Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch 400 Samenhändler in dem kleinen Ort. Bald entwickelte sich in den Gönninger Gärten und vor allem auf den Gräbern der Angehörigen ein wahrer Wettstreit um die schönste Blumenpracht. Vor allem die damals sehr wertvollen Tulpen wurden auf dem Friedhof gepflanzt.
Ob historischer Friedhof, Blumenzwiebel-Lehrgarten, Museum oder entlang des ausgeschilderten Tulpenwegs: Die Besucher ließen sich am Sonntag hineinnehmen in das Wunder der Tulpenblüte und in die spannende Geschichte Gönningens. Im alten Ortskern zeigten über 40 Aussteller auf dem Frühlings- und Künstlermarkt ihr Kunsthandwerk und die örtlichen Vereine und Kindergärten versorgten die Besucher mit Kulinarischem. Am Nachmittag gab die bekannte Autorin Petra Durst-Benning eine Lesung in der evangelischen Kirche. Durst-Henning hat durch ihren historischen Roman »Die Samenhändlerin« eine enge Verbindung zu Gönningen und beschreibt in ihrem Werk das Samenhändler-Leben in Gönningen Mitte des 19. Jahrhunderts. (GEA)
Noch ein Tulpensonntag
Der zweite Tulpensonntag findet am 27. April von 11 bis 17 Uhr auf Fetzers Probefeld in der Lichtensteinstraße 74 statt. Es gibt Bewirtung, Musik mit dem Duo »Manne und Danne« und außerdem ein buntes Kinderprogramm. Auch das Samenhandelsmuseum ist geöffnet.