REUTLINGEN. Zu Gast im Radfahrerclub Francesco Moser in der Schmiedstraße in Reutlingen. Das Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft steht an: Italien gegen Belgien. Eigentlich kann es an diesem Abend keinen besseren Ort geben, um Fußball zu schauen und zu genießen - inmitten frenetisch mitfiebernden Italien-Fans. Schon beim Betreten des italienischen Traditionsclubs in Reutlingen, den es seit 1986 gibt, geht einem Fußball-Romantiker das Herz auf. Es riecht förmlich nach Fußball. Die Vereinswappen der vier größten italienischen Clubs (AC Mailand, Juventus Turin, Inter Mailand, SSC Neapel) schmücken die Wand. Daneben hängen kleine Gemälde, auf denen italienische Fußball-Legenden zu sehen sind. Herrlich, eine perfekte Atmosphäre für einen spannenden Fußball-Abend.
Aber die Anspannung ist groß. Zu viel steht auf dem Spiel. Italien will den Titel, zu schön und zu erfolgreich hat die Squadra Azzura bei dieser EM bisher gespielt. »Der Gewinner aus diesem Spiel wird Europameister«, hört man es immer wieder aus dem Hintergrund sagen. »Ich bin sehr optimistisch. Ich tippe 3:1 für Italien«, prognostiziert ein Reutlinger Tifosi, der ein Italien-Trikot des Stürmers Mario Balotelli trägt. Er ist schon eine Stunde vor Anpfiff gekommen, damit er auch sicher einen Platz bekommt. Das Lokal ist ein beliebter Treffpunkt unter italienischen Fußballfans. Es wirkt alles sehr familiär und freundschaftlich, jeder kennt jeden.
Fans aus allen Altersklassen
»Früher war es der Treffpunkt für alle Fans. Heute ist das leider nicht mehr so extrem. Es verteilt sich alles viel mehr. Viele Leute, die bei einem Sieg auf die Straße gehen, habe ich noch nie gesehen«, erzählt Stammgast Pepe, der seit Kindheitstagen hier im Radfahrerclub Francesco Moser Fußball schaut. »Wir haben hier schon wirklich alles erlebt.« Vertreten sind an diesem Abend Personen aus allen Altersklassen - vom Kindergartenkind bis zum Rentner.
Eine Viertelstunde vor Anpfiff ist der Club voll. Keiner will den traditionell großen Moment vor dem Spiel verpassen: Die italienische Nationalhymne. Eine stimmgewaltige Hymne, die zumindest bei dieser EM ihresgleichen sucht. Die Fans singen voll mit, alle stehen.»Wenn Italien spielt, sind wir alle eins. Das drückt sich schon in der Nationalhymne aus«, sagt Pepe. Zum Schluss brandet riesen Applaus auf, alle Anhänger sind heiß auf dieses Spiel gegen Belgien.
Dann geht's endlich los. Das lange Warten hat ein Ende. Und auch die Fangesänge nehmen ihren Lauf. »Italia, Italia«, hallt es während des Spiels immer wieder durch das Lokal. Auch gerne und oft benutzt: »Ohohohoho«, oder so ähnlich. Die Stimmung ist grandios, erst recht als Leonardo Bonucci in der 13. Minute den vermeintlichen Führungstreffer erzielt. Knapp Abseits, Mist.
Emotionen pur
Eine knappe Viertelstunde später ist es dann endgültig soweit: Tor Italien, Nicolo Barella. Der Jubel kennt keine Grenzen, alle liegen sich in den Armen. Stühle fliegen auf den Boden. Die Richterskala in Reutlingen dürfte in diesem Moment verrückt gespielt haben. Genau daselbe wenige Minuten später: Lorenzo Insigne, satter Schuss ins rechte Eck, 2:0 Italien. Salvatore ist in purer Extase, sein Lieblingsspieler hat getroffen. Er trägt ein Trikot des Torschützen und auch das Hintergrundbild seines Handys ziert der kleine Außenstürmer. Ein besonderer Moment für Salvatore. Und wieder gibt es laute Sprechchöre: »Italia, Italia, Italia.« Nein, Italien ist noch kein Europameister. Das war lediglich das 2:0 im Viertelfinale gegen Belgien. Wie soll das erst werden, wenn sich die Italiener wirklich den EM-Titel holen. Unvorstellbar. Emotionen pur.
Kurz vor der Halbzeit dann der Schock, Elfmeter für Belgien. War dieser gerechtfertigt? »Das war gar nichts«, »Schwalbe«, »Frechheit« - die Reutlinger Italiener haben eine klare Meinung. Auch als Nicht-Italienfan kann man den Unmut der Fans verstehen. Sicher, der Verteidiger geht hier rustikal zu Werke, aber gibt's denn jetzt bei jedem Körperkontakt im Strafraum Elfmeter? Stürmerstar Romelu Lukaku ist das egal. Er schiebt zum 2:1 ein. Kalte Dusche für die Reutlinger Tifosi.
In der Halbzeitpause versammeln sich die italienischen Anhänger vor dem Lokal. Aus der Musikbox eines Autos dröhnt die Nationalhymne und andere italienische Musik. Der Schock des Gegentreffers ist noch nicht ganz verdaut, es gibt hitzige Diskussionen auf Italienisch. Hätte ich nur mal besser im Italienisch-Unterricht aufgepasst.
Nach der Pause geht es genauso stimmungsvoll weiter wie in der ersten Hälfte. In der 63. Minute kommt es dann zu einem Novum an diesem Abend: Für zehn Sekunden herrscht absolute Ruhe im Raum. Ja, richtig, ich habe mitgezählt. Es gibt keinen bestimmten Grund für die Stille, einfach eine kurze Pause, kurz innehalten. Fühlt sich komisch an, gehört aber auch mal dazu. Das Spiel ist weiter rasant. Es gibt massenhaft Torchancen auf beiden Seiten. Keiner im Lokal denkt in diesem Moment an den Titel. Einfach nur das Spiel gewinnen, irgendwie.
»Der Balotelli hätte schon längst zwei Dinger reingeknallt«, hört man es aus dem angrenzenden Raum rufen. Steile These. Im Anschluss scheitern die Belgier zweimal äußerst knapp. Jedes Mal fährt ein Raunen durch den Raum. Und jedes Mal steht den Fans die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Glück gehabt.
Kurz vor 23 Uhr ist es dann soweit: Der Schiedsrichter pfeift ab, Italien steht im Halbfinale der Europameisterschaft. Die Fans liegen sich in den Armen, der Traum vom Titel lebt. Der Jubel fällt noch enthusiastischer aus als bei den beiden Toren. »Jetzt werden wir Europameister«, sagt Pepe, der sich wie viele andere Fans aus dem Lokal nach dem Spiel zur italienischen Fan-Meile in der unteren Wilhelmstraße aufmachte. Andere entschieden sich für den Autokorso durch die Innenstadt.
Alexandro Randazzo, Betreiber des italienischen Club in Reutlingen, sagt abschließend augenzwinkernd: »Das letzte Mal als der GEA bei uns vor Ort war, 2006, wurden wir Weltmeister.« Die Voraussetzungen sind also geschaffen, dass einem weiteren italienischen Fan-Fest in Reutlingen nichts im Wege steht. Im Halbfinale wartet nun am Dienstag Spanien (21 Uhr). (GEA)

