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Foodsaving: Konkurrenz für Reutlinger Tafel-Laden?

In Apps wie »Too Good to Go« machen immer mehr SB-Märkte und Bäckereien Appetit auf Übriggebliebenes. Dort bieten sie »Überraschungstüten« zu kleinem Preis an - damit nicht mehr ganz taufrische Lebensmittel statt in der Tonne doch noch auf dem Teller landen. Klingt gut, aber verursacht dieser digitale Foodsaving-Service womöglich leere Regale in den Tafel-Läden?

In der Lebensmittel-Vorbereitung der Reutlinger Tafel wird die Spreu vom Weizen getrennt. Erst nach gründlicher Musterung gelang
In der Lebensmittel-Vorbereitung der Reutlinger Tafel wird die Spreu vom Weizen getrennt. Erst nach gründlicher Musterung gelangen gespendetes Obst und Gemüse in den Verkauf. Foto: Norbert Leister
In der Lebensmittel-Vorbereitung der Reutlinger Tafel wird die Spreu vom Weizen getrennt. Erst nach gründlicher Musterung gelangen gespendetes Obst und Gemüse in den Verkauf.
Foto: Norbert Leister

REUTLINGEN. Kurz vor Ende ihrer Mindesthaltbarkeit stehende, übrig gebliebene und gespendete Lebensmittel zu kleinem Preis an Bedürftige weiterreichen: Als der Reutlinger Tafel-Laden vor etwas mehr als 25 Jahren erstmals seine Türen öffnete, war dieses Konzept noch konkurrenzlos. An der Echaz gab es damals nämlich weder Foodsharer noch -saver. Fair-Teiler suchte man vergebenes und Apps wie »Too Good to Go« oder »ResQ Club« wollten erst noch erfunden werden.

Mittlerweile hat sich die analoge, vor allem aber die digitale Lebensmittelretter-Szene jedoch deutlich ausgeweitet. Und auch SB-Märkte sowie Discounter sind längst auf den smarten »Too Good to Go«-Zug aufgesprungen und locken beispielsweise tagesaktuell mit »Überraschungstüten«, deren Inhalt zum halben Preis oder sogar deutlich drunter über die Kassenbänder geht.

Leicht angewelktes Obst und Ladenhüter in Überraschungstüten

Gefüllt sind solche »Wundertüten« unter anderem mit Produkten, deren Ablaufdatum beinahe erreicht ist. Zuweilen sind es aber auch leicht angewelktes Obst und Gemüse oder irgendwelche Landenhüter, die auf Schnäppchenjäger, Foodsaver und Menschen mit kleinem Geldbeutel warten. Wobei in diesen Fällen eine klassische Win-win-Situation entsteht: Kunden profitieren von satten Rabatten und Supermärkte generieren mit Waren, die nicht mehr taufrisch sind, Einnahmen. Obendrein dürfen sie sich ein bissle in Lebensmittelretter-Pose werfen und ihr Image ökomäßig aufpolieren.

Fragt sich bloß, ob derlei Aktionen negative Auswirkungen auf die Tafel-Läden haben. Denn, was andernorts bereits Abnehmer findet, kann ja schließlich nicht mehr in den Regalen derer zu liegen kommen, die einer nachweislich bedürftigen Klientel unter die Arme greifen. Deshalb mal bei der Reutlinger Tafel nachgefragt: Sorgen Foodsharing-Apps und Co. für Warenmangel?

Zupackend und freundlich: Heidemarie Hipp und Hanne Mader bringen sich ehrenamtlich im Reutlinger Tafel-Laden ein.
Zupackend und freundlich: Heidemarie Hipp und Hanne Mader bringen sich ehrenamtlich im Reutlinger Tafel-Laden ein. Foto: Christine Knauer
Zupackend und freundlich: Heidemarie Hipp und Hanne Mader bringen sich ehrenamtlich im Reutlinger Tafel-Laden ein.
Foto: Christine Knauer

Antwort: mag sein. Auf die digitale Konkurrenz angesprochen, kann Ljiljana Conzelmann nämlich wenig mehr als spekulieren. »Belastbare Zahlen«, sagt die Tafel-Leiterin, »liegen mir keine vor. Die gibt es meines Wissens auch nicht.« Weshalb es eher Eindrücke sind, auf die sie sich stützt: »Sagen wir mal so. Ich glaube schon, dass uns Überraschungstüten und deren Käufer Waren abziehen. Solche Tüten gäbe es ja schließlich nicht, wenn wir die Produkte gespendet bekämen.«

Dabei kann die Tafel-Chefin aus merkantilen Erwägungen heraus bestens nachvollziehen, dass SB-Märkte - zusammen mit Bäckereien sind sie übrigens Hauptlieferanten der Reutlinger Tafel - nicht durchweg alles, das noch für den Verzehr oder die Körperpflege taugt, verschenken. Wiewohl es »natürlich schön wäre, wenn wir tatsächlich restlos alles bekämen.« Zumal jetzt, da die Laden-Situation einmal mehr von Mangel geprägt ist: »Die Ware wird seit geraumer Zeit weniger, aber die Zahl der Kunden steigt.«

Bitteren Früchte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine

Dieses Missverhältnis, so Ljiljana Conzelmann, sei eine der bitteren Früchte des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Denn seit Beginn der militärischen Auseinandersetzung habe sich die Zahl der Flüchtlinge mit Tafel-Berechtigung auch in Reutlingen vervielfacht. Hinzu kämen inflationsbedingte Teuerungen, die den Beziehern kleiner Renten, aber auch Alleinerziehenden schwer zu schaffen machen. Weshalb man in der Gustav-Wagner-Straße 7, dem Sitz der Tafel, froh um jede noch so überschaubare Spende ist: »Auch kleine Hilfspakete sind sehr wertvoll«; in der Summe kämen sie sogar einem zweiten Standbein gleich.

Gesunde Vitamine für wenig Geld: In Tafel-Läden sind sie in aller Regel zu haben. Engpässe gibt es hier eher bei Mehl, Zucker un
Gesunde Vitamine für wenig Geld: In Tafel-Läden sind sie in aller Regel zu haben. Engpässe gibt es hier eher bei Mehl, Zucker und Speiseöl. Foto: Felix Kästle/dpa
Gesunde Vitamine für wenig Geld: In Tafel-Läden sind sie in aller Regel zu haben. Engpässe gibt es hier eher bei Mehl, Zucker und Speiseöl.
Foto: Felix Kästle/dpa

»Dankbar« seien die aktuell drei haupt- und 97 ehrenamtlichen Tafel-Mitarbeiter, dass es in der Achalmstadt und drumrum etliche Initiatoren gibt, die mehr oder weniger regelmäßig für Waren-Nachschub sorgen. Darunter Schulen und Kirchengemeinden, darunter außerdem Landwirte, Gärtner, Marktbeschicker und rührige Bürger wie beispielsweise Herbert Henes und Thomas Koser-Fischer, die seit 2023 die sogenannten Oststadt-Tafelwochen ausrichten.

Auf dem Prinzip »Kaufen und Teilen« beruht das von den beiden Ruheständlern ins Leben gerufene Hilfs-Format, in dessen Rahmen Spendenkörbe an diversen Orten im Reutlinger Osten aufgestellt und von großzügigen Menschen mit Waren befüllt werden: tunlichst mit solchen Artikeln, die im Sortiment des Tafel-Ladens besonders nachgefragt sind, deshalb niemals fehlen sollten, dies aber trotzdem viel zu häufig tun.

Derzeit fehlt es an Speiseöl, Mehl und Zucker

Momentan gebricht es vor allem an Speiseöl und Mehl. Außerdem ist der Bedarf an Zucker und Nudeln, Müsli, Haferflocken, Tee, Kaffee und Hygiene-Produkten hoch. Sehr willkommen sind darüber hinaus Konserven und Fertiggerichte aus der Dose - »weil manche unserer Kunden«, wie Ljiljana Conzelmann weiß, »keinen Herd, sondern nur eine Mikrowelle haben«. Oder weil sie in zuweilen schmuddeligen Gemeinschaftsküchen schlichtweg nicht mit Zutaten hantieren möchten.

Wichtig zu wissen: Wer den Tafel-Laden mit Sachspenden unterstützen möchte, braucht keineswegs zu teuren Premium-Marken oder Nahrungsmitteln in Bio-Qualität greifen. »Wir freuen uns sehr über preiswerte Discounterware«, betont Conzelmann. »Lieber günstig einkaufen und dafür größere Mengen«, gibt sie die Zielrichtung vor und erklärt, dass die derzeit 1.500 Kunden (deren Partner und Kinder mitgerechnet, versorgt die Reutlinger Tafel Stand heute 3.500 Personen mit Dingen des täglichen Bedarfs) alles andere als schleckig sind. Ebenso wenig wie die Gruppe der Foodsaving-Bewegten, deren Mitglieder zuweilen sogar Überbleibsel, insbesondere Blattsalat und Brot, aus der Gustav-Wagner-Straße 7 abholen und auf die Teller statt in die Tonnen bringen.

Das letzte Glied der Lebensmittelrettungskette

Was diese Aktivisten betrifft, stellen sie gewissermaßen das letzte Glied der Lebensmittelrettungskette dar und sind - »dank eines Agreements mit den hiesigen Supermärkten« - keine Konkurrenten für den Reutlinger Tafel-Laden. Was mitnichten immer so war. Habe es in der Vergangenheit doch durchaus Verteilungskämpfe gegeben. Und zwar so lange, bis die Reihenfolge der Zugriffe geklärt war: Erst sind die Tafeln dran, dann andere.

Bleiben als ernst zu nehmende Konkurrenten eigentlich nur die via »Too Good to Go«-App beworbenen Überraschungstüten übrig. Für Fehlbestände bei lange lagerungsfähigenTopsellern wie Öl, Mehl, Zucker und Haferflocken dürften indes auch sie nicht ursächlich sein. Denn derlei Basis-Produkte finden keinen Einzug in Foodsaving-Bags, die ausschließlich mit Artikeln locken, deren Tage oder Stunden gezählt sind. (GEA)