REUTLINGEN. Hier ist es ein schöner Tag, dort droht der Tod: Im Teich vor dem ehemaligen Altenheim Voller Brunnen blubbern friedlich Karpfen, während in der Ukraine der russische Angriffskrieg wütet. Genau deswegen sind jene Menschen aus ihrer Heimat geflohen, die jetzt hier einziehen. Die ersten Kriegsflüchtlinge sind schon da. Dankbar in die städtische Unterkunft gekommen, weil sie nicht anders konnten. Reutlingens Sozialamtsleiter Joachim Haas erklärt wieso.
Am Anfang des Ukraine-Krieges haben sich jene Mütter mit ihren Kindern oder Familien in Sicherheit vor den russischen Angriffen gebracht, die über irgendwelche Beziehungen zu Deutschland verfügen. »Zu Beginn kommen immer die Menschen mit Ressourcen«, sagt Haas. Leute, die Freunde oder Verwandte hier haben, bei denen sie unterschlüpfen können. Jetzt machen sich jene Leute zwangsweise auf den Weg, die mittellos dastehen, weswegen sie dann ein Dach über dem Kopf von der Stadt brauchen. In kurzer Zeit hat die Stadt den Vollen Brunnen deshalb auf Vordermann gebracht.
»Sprachkurse sind sehr beliebt«
In wenigen Monaten wurde das ehemalige Altenheim für bis zu 150 neue Bewohner fertiggemacht. In den Doppelzimmern mit einer Größe zwischen 18 und 24 Quadratmetern stehen einfachste Betten. Es gibt einige Einbauschränke sowie zwischen zwei Räumen ein Badezimmer. Aus der Großküche im Erdgeschoss ist eine große Gemeinschaftsküche mit 15 Arbeitsplätzen geworden. Investiert wurde außerdem in den Brandschutz sowie in kleinere Anpassungen im Sanitätsbereich. Der Gebäudekomplex an sich ist mit seinem begrünten Innenbereich und den hellen Gängen in gutem Zustand. Insgesamt hat die Stadt Reutlingen in den alten Vollen Brunnen 320 000 Euro investiert. Zum Vergleich: Eine einzige Iris-T-Flugabwehrrakete, mit der sich die Ukrainer gegen russische Luftangriffe verteidigen, kostet schätzungsweise 500 000 Euro. Pro Woche werden ab jetzt jeweils 20 bis 30 Kriegsflüchtlinge im Vollen Brunnen einziehen.
»Die Menschen kommen aus der vorläufigen Unterbringung des Landkreises«, erklärt Carolin Hankiewicz als stellvertretende Leiterin der Abteilung für Unterbringung und Betreuung von Obdachlosen und Flüchtlingen im Reutlinger Sozialamt. Es handelt sich um »alle möglichen Konstellationen« von Flüchtlingen. Schon da sind etwa Familien, die teilweise aus mehreren Generationen bestehen. Vor Ort kümmern sich Unterkunftsbetreuer Mladen Gabric und verschiedene Integrationsmanager um die Menschen. »Wir unterstützen in sämtlichen Lebenslagen: Briefe vom Amt übersetzen, Anmeldung bei der Schule, Anerkennung von Zeugnissen. Die Liste ist unendlich«, erklärt Hankiewicz.
»Sprachkurse sind sehr beliebt«, sagt Gabric, »die Menschen versuchen, sich selbst zu organisieren.« Viele haben schon Arbeit gefunden. Bis Mitte Juli wird der Volle Brunnen wieder komplett bewohnt sein. Da bietet sich ein Blick auf die Statistik an.
1 800 Flüchtlinge und Obdachlose hat die Stadt Reutlingen derzeit in 23 Gemeinschaftsunterkünften und über 300 angemieteten Wohnungen untergebracht. Viele der Privaträume sind zu Beginn des Ukraine-Krieges an die Stadt vermietet worden. Bis zum Jahresende müssen wahrscheinlich noch 578 Ukrainer mit einer vorübergehenden Bleibe versorgt werden. Voll belegt ist bereits das Theodor-Litt-Haus, ein ehemaliges Studentenwohnheim. Die Belegung des Behnisch-Baues, auch ein ehemaliges Altenheim, kommt. Weiteres Obdach wird wohl das Hochhaus der Bruderhaus-Diakonie bieten. Manch’ Kriegsflüchtling kann bereits einen Beitrag leisten – und tut dies gerne, wie die Stadt berichtet. In der Anschlussunterbringung gilt: Wer eine Arbeit hat, bezahlt Nutzungsentschädigung. (GEA)
HILFE FÜR DIE UKRAINE
Menschen aus den Kriegsgebieten der Ukraine suchen auch in Reutlingen Schutz. Auf ihrer Website hat die Stadt Reutlingen viele wichtige Informationen und Hilfsangebote zusammengestellt. Sich das mal anzuschauen macht klar, was Flüchtlinge auf sich nehmen müssen, damit sie hier ankommen können – und wie jeder ihnen auf vielfältige Weise helfen kann. Wer etwa Wohnraum befristet anbieten möchte, kann ein entsprechendes Formular ausfüllen. Mieter ist dann die Stadt. »Die Bereitschaft von Reutlingerinnen und Reutlingern war und ist groß, sich für Geflüchtete einzusetzen und sie zu unterstützen«, lobt die Stadtverwaltung. (zen) www.reutlingen.de/ukraine