REUTLINGEN/TÜBINGEN. »Die Zahl der Narren ist unendlich«, hat der weise israelitische König Salomon vor rund 3.000 Jahren feststellen müssen. Und er hat recht behalten: Im schwäbisch-alemannischen Raum gibt es fast keinen fastnachtsfreien Ort. Vor 100 Jahren zählte man 40 Narrenzünfte. Stand heute sind es 3.005.
Bis 1980 gab es im Landkreis Reutlingen (90 Gemeinden) Fastnachtsnester in Trochtelfingen, Steinhilben, Hayingen und Zwiefalten. Und den karnevalistischen Männerverein 1863 in der Achalmstadt samt Betzinger Krautskräga. Großengstingen reaktivierte 1986 die Fasnet.
Doch bei diesen etablierten Traditionalisten blieb es nicht. Zu Beginn der 90er-Jahren setzte eine explosionsartige Vermehrung ein, die bis heute andauert und die Zahl der Narrenvereine hier auf 81 steigen ließ. Davon allein 30 in den 13 Reutlinger Stadtbezirken.
Nachahmer allerorten
Wie viel Wachstum verträgt ein lokal begrenztes Brauchtum? »Wir brauchen Qualität statt Quantität«, fordern die im Närrischen Freundschaftsring Neckar-Gäu beheimateten Zünfte der 1920er- bis 1970er-Jahre. Denn fast alles, was nach ihnen kam, seien Nachahmungs-Narren – die »d’noochg’machte Fasnet«. Ausgenommen in Orten, wo eingeschlafene Bräuche und alte Figuren wiederbelebt wurden. »Wir haben nichts gegen Nachwuchs. Jede Tradition hat ja irgendwann mal angefangen«, sagt Armin Stehle aus dem geschichtsträchtigen Donaustädtchen Fridingen, wo es keinen Verein braucht, sondern sich die Narretei durch eine Haussammlung finanziert. Das Feiern der Fasnet ist ein über Jahrhunderte gewachsenes Brauchtum. Es lebt von weitergereichten Ritualen und Spielregeln. »Leider haben die meisten neuen Fastnachter keinen Bezug zur Geschichte ihres Heimatorts. Und dort, wo es keine gelebte Fastnacht gab, koopieren sie Bräuche, ohne deren ursprünglichen Sinn zu kennen. Da zählt nur Party machen.«
Religöser Hintergrund verblasst
Die Nachahmer-Welle erfasste auch den Kreis Tübingen mit seinen 61 Gemeinden. Hier zählte man um Rottenburg bis 1979 zehn Maskengruppen. Heute tummeln sich dort 92. Im Zollernalbkreis (94 Orte) gibt es über 110 Narrenvereine. Die Fasnet ist mittlerweile so allgegenwärtig, dass sie den Reiz des Besonderen verspielt hat – zu Ungunsten der Traditionsvereine, die das Brauchtum hüten, das 2014 zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Der religiöse Ursprung der Fasnet, der sich tausend Jahre zurückverfolgen lässt, ist in den Hintergrund getreten. Volkskunde-Professor Werner Mezger erklärt: »Fastnacht ist kein Winteraustreibungsritual, sondern eng mit dem katholischen Glauben als ausgelassene Feierlichkeit vor der Fastenzeit verbunden. Wir wissen gar nicht mehr, wie sehr wir in einem Kalender beheimatet sind, dessen Festtermine vom Kirchenjahr geformt wurden.«
Denn die Kirche spielte durch die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern eine zentrale Rolle. Man hat vor Aschermittwoch noch alles aufbrauchen müssen. Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes »die Sau rausgelassen«. Der gemeinsame Verzehr wurde zu einem Fest, aus dem sich weitere Feierformen entwickelten: Musizieren, Tanzen, Wettkämpfe. Und dadurch: Fasnacht, Fasching, Karneval. Alle Begriffe beschreiben dasselbe: Die Nacht vor dem Fasten; der letzte Fasten-Schank; Carnis levare (lateinisch) bedeutet wörtlich: Lebwohl, Fleisch – und meint auch die sexuelle Enthaltsamkeit. Der »Schmotzige« spielt auf alles Fettige an, dass es galt, zu verarbeiten. Es gibt eine zweite, adventliche Fastenzeit, die im Rheinland ausgeprägt ist. Sie beginnt nach dem Martinstag, dem 11. 11., und endet am Drei-königstag, dem 6. 1. Die beiden Termine erklären das plötzliche Auftauchen von überschwänglich festenden Menschen.
Vor 200 Jahren setzte sich zunächst in der preußischen Rheinprovinz der »Honoratioren«-Karneval in seiner heutigen Form mit den Persiflagen aufs Militär durch. Darum gibt es heute noch im preußisch-hohenzollerischen Raum Prunksitzungen, Themenwagen und Garden – wie in Trochtelfingen, das 1886 einen ersten Rosenmontags-Umzug veranstaltete.
Karneval schwappt auf die Alb
Dem gegenüber steht die ländliche schwäbisch-alemannische Straßenfasnet mit Fleckahäs und Holzmaske. In welcher Dimension sich der Festkomplex Fastnacht momentan bewegt, zeigen die Narrentreffen. Die fanden ursprünglich einmal im Jahr statt. Das eigentlich Narren-Geschehen spielte sich im Heimatort ab. Das erste Treffen veranstaltete 1929 die Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN) – der älteste Dachverband für die streng-traditionell ausgerichteten Narrenzünfte.
Mittlerweile gibt es 35 Fastnachts-Verbände im Südwesten, deren Mitgliedsvereine 2025 zu allein über 240 Narrentreffen vor den Fasnetstagen einladen. Dass Quantitätsrekorde ihre Grenzen haben, erfuhr auch die NZ Ofterdingen – Gründungsmitglied des erst im November 2024 lancierten Narrenfreundschaftsrings Steinlach-Wiesaz-Härten. Zum 20-Jahre-Festumzug waren 110 Zünfte angereist. Es war bereits Nacht geworden, als die letzte Gruppe mit dem Bus eintraf.
Boom zu Beginn der 90er-Jahre
Den ersten Popularitätsschub hat die Fasnet der privater werdenden Medienlandschaft und der zunehmenden Globalisierung zu verdanken, so Mezger. Der Wunsch nach einer überschaubaren, regionalen Welt spiegelte sich um die Wende 1990 in der Gründung von 20 Narrenvereinen im Raum Tübingen/Reutlingen wider. Den zweiten Schub hat die (abgesagte) Fasnet im Golfkriegs-Jahr 1991 erhalten. Denn im Folgejahr wurde – als Wiedergutmachung
– erstmals im SWR-TV ein Treffen der VSAN live übertragen. Bis dahin kannten Zuschauer nur die rheinischen Umzüge und Prunksitzungen.
Nun begeisterte sich fortan jedes Jahr ein wachsendes Millionenpublikum an der bunten Fröhlichkeit der historischen Fastnachtsgruppen aus dem »wilden Süden«. Die VSAN wurden zur »Champions League«. Da wollte man, wenn auch nicht wirklich dazugehören, diesen »Idolen« doch nacheifern: Jeden zweiten Monat im Schnitt ging bis zur Jahrhundertwende aus der Region eine Vereinsanmeldung beim Amtsgericht Stuttgart ein. Zwischen 2000 und 2020 haben sich die Neugründung auf jährlich vier eingependelt. Die aktuelleste ist die der »Steidagischd’r«. Die Initiatoren aus Walddorfhäslach und Riederich haben sich, »weil es drumherum schon überall eine Zunft gibt« für Bempflingen als Sitz entschieden. Dort wohnt die Vorsitzende, der sich bereits 68 Mitglieder angeschlossen haben und denen es »wichtig ist, das Miteinander mit so vielen tollen Menschen und das Brauchtum zu pflegen und leben zu lassen«.
Narrentreffen contra Hausfasnet
Der Volkskundler Dr. Jochen Schicht hat in einer empirischen Studie die Gründe für das »Fasnetsfieber« erforscht: »Anvisiert wird das besondere Gruppenerlebnis und ein großer Bedarf an Kameradschaft.« In Zeiten fortschreitender Individualisierung scheine »das Bedürfnis, sich für jedermann sichtbar als Mitglied einer Gruppe zu präsentieren, in einer auf Öffentlichkeitswirksamkeit ausgerichteten Fastnachts-Show wichtig zu sein«.
Jeder Verein ist bemüht, in einem Verband aufgenommen zu werden, um sich bei den Umzügen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. So schreiben beispielsweise die »Robaweiber Reutlingen«, dass sie sich »über Einladungen auf Umzüge, Hallenfasnet und Brauchtums-abende freuen« würden. Dieser Drang nach Selbstdarstellung führe, so Metzger, zu der grotesken Situation, dass manche Zünfte in ihrem Heimatort so gut wie gar nicht in Erscheinung treten. Man proklamiere, das Brauchtum zu pflegen, aber kenne keine Ortsverwurzelung mehr.
Der Brauchtumstourismus geht auch so weit, dass Mitglieder aus umliegenden Orten aufgenommen werden, um die angebliche Fastnachtstradition in der Gast-Heimatgemeinde zu pflegen. Jeder vierte »Zunftmeister« stammt nicht aus dem Ort oder hat seinen Wohnsitz woanders. Es waren Leute wie Thomas Kahlandt, die als Zugezogene die Narretei in protestantische Flecken brachten. Kahlandt, 1965 geboren in hochnärrischen Rottweil, erlebte in Bästenhardt kümmerliche Faschingsumzüge. Mit Kumpels bildete er eine Laufgruppe. »Wir haben dann 1992 eine Hexengruppe gegründet, weil sie den Hästrägern den größten Spielraum gibt.« 1994 wurde daraus der Steinlachtaler Fastnachts-Verein.
Keine kulturellen Wurzeln
Bei der starken Konkurrenz verwundert es nicht, dass viele Narrengruppen Schwierigkeiten haben, neue (passende) Mitglieder zu finden. So werben die »Gwitter-Hexa Ofterdingen« offensiv: »Wenn Du zu einem Team gehören willst und die Leidenschaft zur Fasnet teilst, dann bist Du bei uns richtig.« Die jungen Zünfte versuchen gewisse Standards zu setzen, um Beachtung zu finden, suchen alte Figuren aus der örtlichen Sagengeschichte und setzen sie professionell in Häs und Szene, so Volkskundler Schicht. Aber kultur- und kirchenhistorische Hintergründe haben diese Narrengruppen keine. Man bewegt sich irgendwo zwischen Heimat-, Freizeit- und Cosplay-Verein, ist dadurch auch Teil der Ortsgemeinschaft geworden, aktiv in den Jahreslauf eingebunden und manchmal überaus sozial engagiert.
»Aber es herrscht die Überzeugung vor, die Rituale auch ohne religiösen Hintergrund oder kulturelle Basis praktizieren zu können«, sagt der Kulturwissenschaftler Markus Dewald, der über die Dorffastnacht am Beispiel Fildern promoviert hat. Die Frage nach den Inhalten einer Fastnachtskultur sei für die Gestaltung der Brauchpraktiker letztlich unwichtig. Eine »Narrenmesse« zu veranstalten, bediene eher die Erwartungshaltung. So wird bereits vor dem Dreikönigstag »abgestaubt«, weil’s vom Wochentag her besser passt.
Zeit bis zur nächsten Saion überbrücken
Gar zur Selbstdisqualifikation werden Auftritte im Oktober auf Halloween-Feiern. »Der Umzug im Holiday-Park ist eine schöne Gelegenheit, Häs und Larve auch außerhalb der Kampagne zu nutzen«, posteten die »Teufels Hexa« aus Eningen. Auch in den Schwaben-Park reisen jeden Herbst rund 180 Hästräger zur »Hexennacht«, um »die Zeit bis zur kommenden Saison zu überbrücken«. Auf Hochzeiten zeigen sich viele Vereine im Sommer ungeniert auf Facebook im vollem Fasnets-Outfit. Die NG Nebelhöhle Wurz’lsepp 1999 e. V. drückt es so aus: Die Fasnet habe zwar »eventuell berechtigterweise christliche« Anknüpfungspunkte. Die Einforderung dieser »Werte«, gingen »je-doch auf Kosten des Brauchtums vieler anderer«.
Fasnet also nur aus »Spaß an der Freud’«, mitunter in der Rolle von fiktiven Fantasiefiguren wie die »Waldgeister« aus Eningen, der Häslacher Schattenwesen, »einer verrückten Gruppe von Werwölfen und Dämonen, die sich in der 5. Jahreszeit austobt«, oder des von den Narrenfreunden Münzdorf frei erfundenen »Geists, der durch Touristen auf Burg Derneck wachgerüttelt wurde«.
Frauen, die gefoltert wurden
Noch beliebter, aber wegen ihrer schieren Masse abwechslungsärmer, sind die Hexenfiguren. Über 60 Gruppen sind in der Region unterwegs. Eigentlich ist die Hexe ein gottfernes Wesen, so Mezger, »eine historische Altweiberfigur, die Spottgelächter hervorrufen sollte und als knorrige Frauengestalt in den Grimm’schen Märchen Einzug gefunden hat«. Allein zwölf Narrenvereine im Reutlinger Umkreis jedoch berufen sich bei ihren Figuren ausdrücklich auf reale lokale Frauen, die während der Hexenverfolgungen bestialisch gefoltert worden sind.
Damit wird der Narrencodex »Jedem zur Freud’ und niemand zum Leid« ad absurdum geführt. Sie haben sich die tragischsten Personen ihrer Ortsgeschichte als Spaßfigur auserkoren. Ausgerechnet diese Femizide werden zur Belustigung eingesetzt – mit der Verbrennung jener »Hexe« als Strohpuppe. Das »Hexenunwesen« steht zunehmend in der Kritik. Beim Horber Umzug 2024 hatten verkleidete Männer der Hexengruppe Seebronn vor laufender TV-Kamera die Moderatorin sexuell belästigt.
Lieber feiern, statt Brauchtumspflege
Bei alldem fragen sich die alten Narrenvereine, ob das die Zukunft sein soll. Immer mehr Hästrägern ist das Feiern in den Barzelten wichtiger als Brauchtumspflege. Man nennt sie Partynarren. Auf diese Weise gehe die tradierte Fasnet Stück für Stück verloren und rutscht selbst in den Hochburgen in Richtung Event, klagt der Brauchtumssprecher der Villinger Narrozunft, Michal Bohrer. Muss der Zulauf ins Häs gar gesteuert und gebremst werden?
Zumindest in der ehrwürdigsten Narrenzunft, in Rottweil, hat man die Mitgliederzahl gedeckelt – ins Häs dürfen ohnehin nur Teilnehmer, die seit mindestens fünf Jahren in der Stadt wohnen. (GEA)