REUTLINGEN. Der Jurist spricht von menschlichem Augenblicks-Versagen. Vor fast genau einem Jahr, Anfang Mai 2024, fuhr eine damals 18-Jährige aus Sickenhausen kommend in die Kreuzung zur B 464, dem Zubringer zur B 27, ein. Dabei übersah sie ein DRK-Fahrzeug, das eine Rollstuhlfahrerin transportierte. Die behinderte Frau starb kurz darauf in der Klinik. Die Unfallverursacherin musste sich jetzt wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht Reutlingen verantworten.
»Ich kann mir bis heute nicht erklären, weshalb ich in die Kreuzung eingefahren bin«, sagte die junge Frau unter Tränen. Sie habe geschaut, aber nichts wahrgenommen. Bis heute lasten der Unfall und dessen Folgen schwer auf ihr, wie auch bei der Verhandlung unter Vorsitz von Richter Sierk Hamann deutlich wurde. Die junge Frau, die sich vor Gericht vielfach entschuldigte, hatte damals knapp sechs Monate den Führerschein und, wie sie erzählte, doch bereits einiges an Fahrpraxis.
Im Gerichtssaal
Richter Sierk Hamann; Staatsanwalt Tobias Freudenberg; Verteidiger Christian Fuhrmann; Dekra-Sachverständiger Frank Steinbrück; Jugendhilfe im Strafverfahren Henriette Freitag.
An jenem Nachmittag wollte sie von ihrer Arbeitsstelle, wo sie ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte, nach Hause und hatte noch einen Kollegen im Auto. An der Einmündung Donaustraße/B464 hielt sie an. Von links näherte sich der Krankentransport des DRK. Als dieser noch etwa 50 Meter entfernt war, fuhr die junge Frau los. Das DRK-Fahrzeug krachte frontal in die Fahrerseite. Die Rollstuhlfahrerin, die im hinteren Bereich des Fahrzeugs vorschriftsgemäß gesichert war, wurde bei dem Aufprall so schwer verletzt, dass sie später verstarb.
Traumatisches Erlebnis
Auch für den DRK-Fahrer war das Erlebnis traumatisch. Er habe die Rollstuhlfahrerin und deren Familie gut gekannt, sie regelmäßig abgeholt und wieder nach Hause gebracht. Erinnern konnte er sich, dass das Fahrzeug der Unfallverursacherin an der Kreuzung stand. »Plötzlich ist sie rausgefahren.« Dass er keine Chance hatte, den Unfall zu vermeiden, das bestätigte Dekra-Sachverständiger Frank Steinbrück, der den Unfallhergang akribisch erläuterte und bewertete: »Die Zeitdauer war für den DRK-Fahrer so gering, dass er nicht mehr reagieren konnte.« Ein zweiter Zeuge berichtete dem Gericht, die junge Fahrerin sei ihm zuvor in Sickenhausen aufgefallen, weil sie dort kurz vor dem Unfall ebenfalls knapp in eine Kreuzung eingefahren sei. Ein anderes Fahrzeug habe stark abbremsen müssen. Eine Aussage, die das Gericht nicht abschließend klären konnte. Denn sowohl die Angeklagte als auch ihr Beifahrer konnten sich an einen solchen Vorfall nicht erinnern.
Auch die Sicherung der Rollstuhlfahrerin im DRK-Fahrzeug nahm der Dekra-Sachverständige unter die Lupe. Die Gurte seien allesamt zertifiziert, die Rollstuhlfahrerin ordnungsgemäß angeschnallt gewesen. Die Stärke des Aufpralls sei jedoch so heftig gewesen, dass die Frau, die bereits Vorerkrankungen hatte, ihren Verletzungen erlag.
Für Richter Sierk Hamann stellte sich die Frage, ob die Angeklagte nach Jugendstrafrecht oder nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen sei. Entscheidend dabei ist auch, wie gefestigt die junge Frau ist, wie ihr Umfeld aussieht. Sowohl die Vertreterin der Jugendhilfe im Strafverfahren, Henriette Freitag, als auch Richter Hamann sowie Staatsanwaltschaft und Verteidigung beschrieben die Angeklagte, die aus intakten und stabilen Familienverhältnissen stammt, als typische junge Erwachsene mit Plänen für ihre nahe Zukunft. Staatsanwalt Tobias Freudenberg hob hervor, die Angeklagte übernehme Verantwortung für das Geschehene und das ganze Verfahren habe gezeigt, dass es vieles gebe, was sie entlaste. Eine Entwicklungsverzögerung könne er nicht erkennen, weshalb er ein Urteil nach Erwachsenenstrafrecht forderte, konkret 90 Tagessätze zu je 25 Euro und ein viermonatiges Fahrverbot.
Verteidiger Christian Fuhrmann forderte die Anwendung des Jugendstrafrechts. Er verwies dabei auch auf die Pandemiezeit, die seine Mandantin in ihrer Entwicklung voll getroffen habe. »Diese Jugendlichen waren in ihrer sozialen Entwicklung drei Jahre ausgebremst.« Alles spreche bei seiner Mandantin für eine gute Entwicklung. Deshalb forderte er statt Geldstrafe die Ableistung von 100 Sozialstunden und ein dreimonatiges Fahrverbot.
Geldstrafe auf Bewährung
Richter Hamann überraschte dann alle Beteiligten mit seinem Urteil: Er wendete Erwachsenenstrafrecht an, sprach der Angeklagten aber eine sogenannte Verwarnung aus und verurteilte sie zu 180 Tagessätzen à 25 Euro auf Bewährung. Zwei Jahre wird die junge Frau unter gerichtlicher Beobachtung stehen und darf sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Außerdem muss sie an einem Sicherheitstraining sowie am Verkehrsunterricht der Polizei teilnehmen und an das Mädchencafé in Reutlingen 1.000 Euro zahlen. Hamann verdeutlichte in seiner Urteilsbegründung nochmals die dramatische, schreckliche Situation: Die Angeklagte habe in einem Bruchteil von Sekunden versagt, doch dabei sei ein Mensch zu Tode gekommen. »Ein menschliches Augenblicks-Versagen mit den schlimmsten Folgen.« Deshalb habe er auch die höchst möglichen Tagessätze verhängt. Mit dem Urteil zur Bewährung gebe es keinen Eintrag ins Führungszeugnis, der jungen Frau werde der Lebensweg nicht verbaut. Von einem Fahrverbot sah Hamann ab. Die Angeklagte habe nicht verantwortungslos gehandelt. (GEA)