KREIS REUTLINGEN. »Es ist einfach eine unglaublich anstrengende Situation«, sagt Eraj. Dann stockt der 25-Jährige, seine Augen werden feucht, ihm kommen die Tränen. Ende September 2024 ist der junge Mann aus Afghanistan geflüchtet, über den Iran, die Türkei und Italien, schließlich nach Deutschland. Einst hat er studiert, war in seiner Heimat Englisch-Lehrer, hat an einer Mädchen-Schule unterrichtet. Doch als die Taliban diese Schule geschlossen haben, wurde sein Vater bedroht, erzählt er. »Sie haben gesagt, sie nehmen mich gefangen, wenn ich weiter unterrichte.« Also entschloss er sich zur Flucht nach Europa, ließ seine Eltern und seine drei Schwestern zurück.
Seit Februar ist nun ein 3.200 Quadratmeter großes Zelt Erajs neue Heimat: die Erstaufnahmeeinrichtung (EA) des Landes in der Carl-Zeiss-Straße in Betzingen. Eine recht schmucklose Heimat auf Zeit, auf einem bewachten Gelände. Der Komplex erinnert ein wenig an ein überdimensioniertes Festzelt - in das der GEA nun einen exklusiven Einblick bekommen hat. Denn rein kommt man hier als Außenstehender sonst nicht ....
»Es geht ein Stück weit auch darum, die Leute hier drin von Einflüssen von außen abzuschirmen«
Das Gelände ist umzäunt, die Eingangsschleuse wird von Mitarbeitern einer Sicherheitsfirma bewacht. Die Bewohner müssen ihre Taschen vorzeigen, wenn sie aus der Stadt zurückkommen. Alkohol und Drogen sind in der EA verboten, auch will man verhindern, dass Waffen den Weg in die Einrichtung finden. Nur Bewohner, Mitarbeiter und angemeldete Personen dürfen das Gelände betreten. Selbst die Pressevertreter müssen ihren Personalausweis vorzeigen. Einfach so mal Freunde mitbringen? Fehlanzeige für die Flüchtlinge. »Es geht ein Stück weit auch darum, die Leute hier drin von Einflüssen von außen abzuschirmen«, sagt Christoph Dudenbostel, beim Regierungspräsidium (RP) Leiter des Referats für Flüchtlingsaufnahme. Die Flüchtlinge, die in der EA leben, haben alle schon ihre Anhörungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hinter sich. In Betzingen warten sie nun auf die Entscheidung über ihr Asylverfahren. Ist diese positiv, werden sie einem Landkreis zugeteilt. Ist sie negativ, werden sie abgeschoben.

Und dieses Warten auf die Entscheidung kann ganz schön an den Nerven zehren. Eraj aus Afghanistan hat seit seinem Gespräch mit dem BAMF nichts mehr von der Behörde gehört. »Kein Brief, gar nichts. Ich bin beunruhigt«, sagt er auf Englisch im Gespräch mit dem GEA. Und so hängt er in gewisser Weise im Niemandsland fest. Der Gedanke an eine drohende Abschiebung nach Afghanistan besorgt ihn zutiefst. Eigentlich würde er sich gerne in Deutschland integrieren, sagt er. Nochmal studieren, die Sprache lernen. Er liebt Fußball, war in seiner Heimat ein guter Kicker. Vielleicht würde er einen passenden Verein finden? Aber was, wenn er den Landkreis dann doch wieder verlassen muss? Schließlich hat er schon einmal die Entwurzelung und den Neuanfang erlebt.
»Über 40 Bewohner hätten Lust, dort Fußball zu spielen«
Der Diakonieverband Reutlingen will den Flüchtlingen die Zeit bis zur Entscheidung des Asylantrags zumindest ein wenig angenehmer gestalten. Er bietet eine unabhängige Beratung an und versucht, Freizeitangebote zu organisieren. Gar nicht so einfach - den Landkreis dürfen die Flüchtlinge hier in diesem Stadium des Asylverfahrens nämlich nur nach Genehmigung verlassen. Es gibt beispielsweise Gespräche mit dem TSV Betzingen, »über 40 Bewohner hätten Lust, dort Fußball zu spielen«, sagt Asyldiakonin Anna Sonnemann. Fußball verbindet.
Sonst gibt's nicht unbedingt viel Abwechslung auf dem Gelände der Erstaufnahmeeinrichtung. Draußen gibt's einen Raucherbereich mit ein paar Sitzgelegenheiten, innen etwas, das man »Wohnzimmer« nennen könnte: Eine knapp 30 Quadratmeter große »Box«, abgetrennt durch nicht ganz blickdichte Wände, in der ein Tischkicker, eine Tischtennisplatte und eine Sitzgruppe stehen. In der Box daneben steht ein Billiardtisch. Viele Flüchtlinge haben an diesem Frühlingsmittag Kopfhörer auf, telefonieren, hören Musik, laufen durch die Gänge.
124 Männer aus 14 Ländern leben aktuell in der EA. Knapp über 40 von ihnen stammen aus Syrien, rund 20 jeweils aus Afghanistan und Indien, etwas weniger aus der Türkei, gefolgt von China. Die Regelkapazität der Einrichtung sind 186 Menschen, wenn es hart auf hart kommt, könnte man sogar 350 Menschen unterbringen. »Wir haben in Abstimmung mit dem Justizministerium beschlossen, dass das hier, so lange es geht, eine reine Männereinrichtung bleibt«, sagt Christoph Dudenbostel vom RP. Würde man Frauen oder Familien unterbringen, müsste man nochmal eine ganz andere und spezifischere Betreuungsstruktur schaffen.
»Ich mache das jetzt seit 10 Jahren - und ich kann das Vorurteil, dass Männerunterkünfte kritischer sind, nicht bestätigen«, sagt Einrichtungsleiter Marco Rigano. Das bestätigt auch die Pressestelle der Reutlinger Polizei auf GEA-Nachfrage: »Vereinzelt waren Streitigkeiten, Beleidigungen oder Körperverletzungsdelikte – meist unter den Bewohnern – im Bereich der Unterkunft zu verzeichnen. Zu besonderen Vorkommnissen oder herausragenden Einsatzlagen kam es jedoch bislang nicht.« Die EA sei »kein Brennpunkt« der polizeilichen Tätigkeit.
»Ich kann das Vorurteil, dass Männerunterkünfte kritischer sind, nicht bestätigen«
Die Männer leben in Wohneinheiten, die - wie das »Wohnzimmer« - durch nicht ganz blickdichte Wände abgetrennt sind. 28 Quadratmeter groß ist das Acht-Mann-Zimmer, 21,5 Quadratmeter das Sechs-Mann-Zimmer. Die Stockbetten sind aus Metall und muten militärisch an, jeder kriegt einen Spind zur Verfügung gestellt. »In den Erstaufnahmeeinrichtungen gilt die Zwei-Gepäckstücke-Regelung«, sagt Einrichtungsleiter Rigano. Die Wände der Wohneinheiten sind kahl - und müssen es auch bleiben. Die Flüchtlinge dürfen nichts aufhängen, keine weiteren Möbel aufstellen. »Brandschutz, Sicherheit und Hygiene«, nennt RP-Mann Dudelbostel als Gründe für die strenge Hausordnung. »Ja, das ist eine Einrichtung, der man anmerkt, dass sie als Übergang gedacht ist.« Integration sei dann gefragt, wenn die Bleibeperspektive da ist.

Wie groß ist die Chance auf diese Bleibeperspektive? Das fragt sich auch Zhicai, ein regierungskritischer Blogger, der aus China nach Deutschland geflüchtet ist. Ein flüssiges Gespräch mit ihm ist schwer, denn er spricht - im Gegensatz zu den meisten anderen Flüchtlingen in der EA - kein Englisch. Eine Handyapp schafft Abhilfe. Katharina Wagner, die als Verfahrensbegleiterin für die Diakonie in der EA arbeitet, ist mittlerweile geschult im Umgang mit der App und hilft beim Pressegespräch aus. Er sei nicht sehr anspruchsvoll, was seine aktuelle Unterkunft betrifft, sagt Zhicai dem GEA. »Ich möchte einfach nur Schutz.« Auch er hatte schon seine BAMF-Anhörung und wartet seitdem auf Antwort. Die Gesamtschutzquote für Asylanträge von Chinesen liegt nach BAMF-Angaben zwischen 5 bis 10 Prozent. Zhicai äußert sich indess irgendwie diplomatisch, genügsam und kämpferisch zugleich: »Ja, in einem Zelt ist es nicht sehr bequem«, übersetzt die App. »Aber mein Ideal ist es, die diktatorische Regierung in China zu stürzen.«
»Ja, in einem Zelt ist es nicht sehr bequem«
Gemütlich ist es wirklich nicht. Zweckdienlich und sauber schon. Neben den Wohneinheiten gibt es eine Wäscherei, sowie Wasch- und Duschcontainer. Eine Reinigungsfirma putzt zweimal am Tag die Gemeinschaftsräume, die Bewohner können sich zudem freiwillig für Putzdienst melden. 80 Cent pro Stunde gibt's dafür. »Das ist bundesweit festgelegt«, sagt Christoph Dudenbostel fast ein wenig entschuldigend. Ein Dienstleiter sorgt für die Versorgung, dreimal pro Tag gibt's Essen, die Kantine erinnert mit ihren Bierbank-Garnituren unweigerlich an ein Festzelt. Es gibt einen Raum, in dem Sprachkurse angeboten werden, einen Info-Punkt für Alltagsfragen, eine Anlaufstelle für Fragen zum Asylverfahren. Und eine Krankenstation - der einzige Raum mit Decke, »wegen der Privatsphäre«. Es gebe einen gewissen Prozentsatz an Menschen, die psychologische Hilfe benötigen, sagt RP-Mann Dudenbostel. Mehr als Akutversorgung kann man ihnen in der EA aber nicht bieten.
Es ist ziemlich warm im EA-Zelt an diesem Mittag. Und dabei ist es erst Frühling. Asyldiakonin Sonnemann kennt das Zelt schon aus dem vergangenen Sommer, als der Kreis noch Betreiber der Einrichtung war. Und sie weiß, wie ungemütlich warm es drin noch werden kann. »Ja, ich weiß, dass die Hitze wieder ein Thema wird«, sagt auch Einrichtungsleiter Rigano. Könnte man dem Abhilfe schaffen? »Es gäbe Möglichkeiten, aber das kommt auch drauf an, was man bereit ist, in die Hand zu nehmen.«

Menschen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, kritisieren die lange Verweildauer der Männer in der EA. Während im Dezember 2024, bei Inbetriebnahme durch das Land, von Seite des RP noch von »wenigen Tagen bis einigen Wochen« die Rede war, ist dieser Zeithorizont nun Makulatur. »Das ist nicht zu leisten und auch nicht erforderlich«, sagt RP-Mann Dudenbostel. Die Verfahren für einige Herkunftsländer stocken aktuell, während die Flüchtlingszahlen parallel nicht mehr so ansteigen wie noch vor einem Jahr. Durch Inbetriebnahme der Landeseinrichtung bekommt der Kreis nun weniger Flüchtlinge zugewiesen, das sogenannte LEA-Privileg.
Auch kursiert das Gerücht, das Land wolle die Betzinger Einrichtung zu einer Abschiebe-Einrichtung umbauen. »Wir hatten bisher keine einzige Abschiebung von hier«, sagt dagegen Einrichtungsleiter Rigano. »Nur eine Handvoll freiwilliger Rückreisen, beispielsweise nach Palästina und in die Türkei.« Aktuell hat das Land das Gelände in Betzingen vom Kreis gemietet, auf unbefristete Zeit. Gibt's Kaufpläne? »Es finden aktuell Gespräche zwischen Land, Kreis und Stadt statt«, antwortet Dudenbostel auf diese Frage. Von Landkreis-Seite hört sich das Ganze etwas abgeschwächt an: »Das Land hat bereits vor Übergabe signalisiert, dass Interesse an einer längerfristigen Nutzung des Grundstücks besteht.« Und weiter: »Eine konkrete Anfrage zur Veräußerung des Grundstücks liegt dem Landkreis nicht vor. Auch werden keine entsprechenden Verhandlungen geführt.« (GEA)