REUTLINGEN. In Betzingen, in der einstigen Eisenbahnschule, hat der Weiße Ring (WR) eine neue Unterkunft gefunden. Ideal sei das, finden Außenstellenleiter Volker Zaiß ebenso wie Dagmar Wilke-Jetter als eine von sechs ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. »Ich habe die Seite gewechselt«, sagt Zaiß beim Pressegespräch. Mit 45 Jahren im Polizeidienst (zuletzt als Kriminaldirektor bei der Polizeidirektion in Reutlingen) war er dafür zuständig, Täter zu fassen und Straftaten aufzuklären.
Das ist jetzt anders: Nun steht er auf der Seite der Opfer, der Betroffenen von Straftaten. Ein Jahr hatte Zaiß sich gegönnt, als er in den Ruhestand ging, dann meldete er sich beim Weißen Ring. Genauso wie Wilke-Jetter als einstige Kollegin bei der Polizei hat auch Zaiß zunächst mal bei der ehrenamtlichen Tätigkeit reingeschnuppert, dann den Grundlehrgang absolviert. Es folgte ein Aufbaukurs und schließlich noch ein spezielles Qualifizierungsseminar für die Leitung der Außenstellen des Weißen Rings. Im Januar diesen Jahres hat er seine neue Stelle angetreten. »Seitdem haben wir schon 90 Fälle zu bearbeiten gehabt«, sagt Volker Zaiß.
Beim Weißen Ring herrsche das 6-Augen-Prinzip, sagt Hartmut Grasmück als WR-Landesvorsitzender Baden-Württemberg. Und das heißt? Ehrenamtliche setzen sich nicht allein mit den Tatbetroffenen zusammen. Um die Situation und auch die Hilfe besser einschätzen zu können. »Eines ist ganz klar: Die Opfer kommen von sich aus zu uns«, betont Volker Zaiß. Bei der Polizei werden sie zwar auf die Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten beim Weißen Ring hingewiesen, aber: Die Opfer müssen sich schon selbst beim besonderen Ring melden.
»Wir brauchen noch weitere Ehrenamtliche, am besten Frauen – weil eben viele Opfer ebenfalls Frauen sind«
Die meisten Betroffenen von Straftaten waren in Reutlingen in diesem Jahr Opfer häuslicher Gewalt, von sexuellen Übergriffen, Stalking, aber auch Cybermobbing oder Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer, zählt Zaiß auf. »Wir brauchen noch weitere Ehrenamtliche, am besten Frauen – weil eben viele Opfer ebenfalls Frauen sind.« Die jüngste Ehrenamtliche ist momentan 27 Jahre alt, »das ist sehr gut, weil sie an den Themen in Schulen deutlich näher dran ist«, betont Volker Zaiß. »Man muss nicht vom Fach sein, um sich beim Weißen Ring einbringen zu können.«
Die Hilfe, die Betroffene beim WR erhalten können, ist zunächst mal das offene Ohr, das alle Ehrenamtlichen mitbringen. Dann gehe es darum, die bestmögliche Hilfe zu finden. Beratung durch andere Stellen, von der Traumaambulanz an der PP.rt etwa. Oder von Anwälten, die das Opfer vor Gericht vertreten. Hilfe kann aber auch so aussehen, dass Opfer zu Zeugenaussagen bei der Polizei oder vor Gericht begleitet werden. »Es entlastet enorm, wenn eine vertraute Person mit dabei ist«, sagt Zaiß. Mittlerweile sei sogar ein geschulter Hund mit im Einsatz, der Menschen begleiten könne.
»Wir sind Lotsen durch das Hilfesystem«
Pro Fall sei ein Aufwand von rund fünf Stunden notwendig, manches Mal aber auch mehr. Was der oder die Ehrenamtliche für den Einsatz erhält? »Dank«, sagt Zaiß kurz und knapp. Den Dank der Opfer, dass sie auf ihrem schweren Weg begleitet wurden. »Voraussetzung für unsere Hilfe ist aber, dass die Menschen Opfer einer Straftat geworden sind.« Was aber nicht zwangsläufig heißen müsse, dass Opfer etwa von häuslicher Gewalt die Tat bei der Polizei anzeigen müssen.
»Wir sind Lotsen durch das Hilfesystem«, sagt Hartmut Grasmück. Manchmal können die Mitarbeiterinnen vom Weißen Ring auch Soforthilfe leisten, etwa eine Fahrkarte zu einem Frauenhaus bezahlen. Alles, was über 300 Euro hinausgeht, müsse allerdings über die WR-Zentrale in Mainz beantragt werden. Etwa, wenn eine Frau eine neue Wohnung braucht, keine Möbel, Einrichtungsgegenstände hat.
Der Weiße Ring selbst finanziert sich laut Grasmück rein über Spenden, Mitgliedsbeiträge, Nachlässe. »Wir kriegen keine öffentlichen Gelder«, sagt der Landesvorsitzende. Weitere Standbeine der Arbeit sind Prävention besonders im Bereich Cybermobbing an Schulen und die Lobbyarbeit in der Politik, um Verbesserungen für den Opferschutz zu erreichen. (GEA)