REUTLINGEN. Wie viele Kilometer Birgit Hövel gerade jeden Tag zu Fuß zurücklegt, weiß sie nicht. Täglich sechs Stunden ist sie in der Nikolaikirche und die 100 Meter rüber zum Vesperkirchen-Café unterwegs. Als Vesperkirchenpfarrerin stemmt sie seit 12. Januar und noch bis 9. Februar allein die seelsorgerlichen Aufgaben dieses ökumenischen »Willkommensorts«. Statt sie sich mit ihrem langjährigen Kollegen Jörg Mutschler zu teilen. Da der beliebte Vesperkirchenpfarrer krankheitsbedingt ausfiel, ist die Pfarrerin im Ruhestand nun Mädchen für alles. Nachdem viele Besucher Genesungswünsche ausrichteten, verliest sie am Mittwoch, nachdem sie am Pult im Altarraum die kleine Klangschale anstieß, zur Begrüßung und ein paar Regularien für alle Anwesenden auch dessen Grüße.
Der Tag im Kirchengebäude und in den seit 2024 zusätzlich als Café genutzten Räumen in der Unteren Gerberstraße beginnt für sie und den Leitungskreis um 8.30 Uhr: Mindestens fünf Mitglieder stellen dann Wasser und Lichter an und »bringen die Logistik in Fahrt«, erklärt Sabine Lehmkühler, die vom Diakonieverband, dem Träger der Reutlinger Vesperkirche, für die Koordination von insgesamt rund 300 Ehrenamtlichen zuständig ist.
25 bis 28 von ihnen stoßen um 9.30 Uhr hinzu. Hövel, Lehmkühler und Kollegen teilen sie ein, statten sie mit Schürzen, Gummihandschuhen und Namensschildern aus. Nach dem »Morgenimpuls« werden Weckle gemeinsam belegt, in Tüten verpackt, auf Bäckerkisten verteilt und mannshoch aufgestapelt zur Theke gerollt. Zuletzt wischen unter anderem Bärbel Magnussen, Ursula Brändle und Irmgard Flamm die Tische ab und bestuhlen den Raum.

Die mobile Küche und das Büro hatte der 20-köpfige Kreis um Diakonieverbands-Geschäftsführer Pfarrer Dr. Joachim Rückle in der Woche vor der Eröffnung installiert. Birgit Hövel bespricht sich mit einem der »absoluten Experten« im Team, Klaus Ege, der Tabletts voller Salat hereinträgt. Er disponiert mit Gabi Weinandy die Essensbestellungen, die das Bruderhaus als bewährter Partner anliefert. Vier Fahrer holen außerdem Lebensmittelspenden ab und kaufen zusätzlich ein. »Leute, heut' gibt's die besten Kräutergnocchi«, entfährt es Frank Bode, als er mit Hannelore Reiff und Malgorzata Gimbel, die von ihrem Arbeitgeber für den ehrenamtlichen Einsatz freigestellt wurde, an der Essenausgabe den Deckel eines Tabletts lüftet. Von der Käsesoße strömt herrlicher Duft durch den geschäftig wimmelnden Kirchenraum. Spätestens um 10.45 Uhr ist in dem seit 2005 ansonsten als ökumenische »Citykirche« genutzten Bau alles bereit, um reiche und arme Menschen, die sonst wenig Berührungspunkte haben, einzulassen.
Höchste Zeit, denn die warten schon vor dem barrierefreien Nebeneingang. Um 11 Uhr geht es offiziell los, um 10.45 Uhr sitzen schon 15 Besucher auf einigen der 60 Stühle an drei langen Tischen. Kontinuierlich strömen Besucher bis 13.30 Uhr vorfreudig herein: alt und jung, groß und klein, blond und braun, blass und dunkelhäutig, wortgewandt und still. Birgit Hövel begrüßt viele persönlich. »Der Bedarf ist groß«, erklärt sie, »und die Disziplin unglaublich.« So ebbt das Gemurmel stets gleich ab, wenn sie die Klangschale anstößt.
Susanne Kirschbaum und andere Helfer weisen die Plätze zu. Ursula Brändle und Brigitte Junger servieren auf ihren Tabletts Wasser und Apfelschorle. Helmut Gollmer füllt an der Theke die Gläser. Andere bringen das warme Essen, zum Nachtisch gibt es Joghurt und gerührte Kuchen oder Hefezopf. Susanne Schneider verteilt nach dem Essen die belegten Brötchen und Mutscheln sowie Obst als Proviant an die Bedürftigen - und lernt dabei Dankesworte in verschiedenen Sprachen.
Im Schnitt gehen täglich 330 Essen raus. Zuletzt kamen mal 370 Gäste, da musste in der Küche im Oberlinhaus flugs nachbestellt werden. Mittwochs gibt es ein vegetarisches Gericht und freitags grundsätzlich kein Schweinefleisch.
Ein paar Besucher sind am Mittwoch noch aus einem anderen Grund da: Decio Laraia schneidet zweimal die Woche Menschen, die sich das nicht leisten können, ehrenamtlich die Haare - vorausgesetzt, die sind frisch gewaschen. Das werde »aus hygienischen Gründen« verlangt, wie die Vesperkirchenpfarrerin beim nächsten Gong erklärt. Froh heißt sie den frühverrenteten Friseurmeister willkommen. Auch montags sei Laraia »der begehrteste Mann des Tages«.
Nachdem der sein Handwerkszeug ausgepackt und in der Sakristei neben zwei Kerzen, Radio und Engelstatuette eine Karte mit dem Spruch »I work because I love my job« platziert hat, greift er zu Kamm und Schere. Der Raum ist eng, aber ruhiger als vergangenes Jahr, wo er seine Dienste noch hinterm Altar anbot. Die Termine sind eng getaktet, bis 14 Uhr ist er auch für kommende Woche schon ausgebucht.
Noch ein Unentbehrlicher: »Technik-Mann« Hans-Werner Erdbrink. Bis zur Halbzeit sei diesmal »alles mal kaputtgegangen, was kaputtgehen kann«, erzählt die 68-jährige Sonderpädagogin und evangelische Theologin, die viele Jahre unter anderem Reli-Lehrer ausgebildet hat. »Aber wenn er da ist, hat man den Eindruck, man ist in Abrahams Schoß«, schwärmt Birgit Hövel. »Jeder macht seine Aufgabe. Wenn nur ein Rädle nicht funktioniert, läuft die ganze Maschine nicht«, erklärt Manfred Rüdt. Er bildet der zweifachen Mutter und fünffachen Oma zufolge das »Rückgrat der Vesperkirche«.

Der 70-jährige Eninger ist seit zehn Tagen für den Spüldienst zuständig. Bäckerboxen voll benutzter Gläser, Tassen und weiterem Kaffeegeschirr tragen Helfer auf die Empore. Und holen sie von dort sauber wieder ab. »Essteller und Besteck gehen komplett zurück ans Oberlinhaus«, erklärt er. Durch den ehrenamtlichen Einsatz seit 13 oder 14 Jahren in der Vesperkirche möchte Rüdt »einen kleinen Beitrag leisten, um die Ungerechtigkeiten in der Welt auszugleichen«. Die beschäftigen ihn oft. »Man kann die Welt nicht verbessern, aber meinen kleinen Teil dazu beitragen, das kann ich.«
Sabine Lehmkühler ist »eigentlich gar nicht da«. Tatsächlich war sie schon frühmorgens beim RSV, um weitere Bustickets abzuholen, die zunehmend gefragt sind. 500 spendet das Stadtverkehrsunternehmen, 650 kaufte die Vesperkirche schon zu. »Die 5,50 Euro für ein Tagesticket können sich viele Menschen nicht mehr leisten«, sagt sie. Nachfragen gibt es auch von der Alb, die der RSV nicht abdeckt. Der Diakonieverband Reutlingen, der die Vesperkirche bereits zum 28. Mal in enger Zusammenarbeit mit den ökumenischen Kirchen in Reutlingen veranstaltet, umfasst schließlich auch den Kirchenbezirk Bad Urach-Münsingen. »Das Thema müssen wir fürs nächste Jahr angehen«, findet die Ehrenamtskoordinatorin.
Michael Schäfer, ein »lieber Kollege« von Birgit Hövel, gestaltet den »Mittagsimpuls« unter anderem mit dem gemeinsamen Lied »Du bist gesegnet, ein Segen bist Du«, das er an der Gitarre begleitet.
Kaffee, Kuchen und Zeit zum Verweilen im Vesperkirchen-Café
Wer länger verweilen möchte, wechselt ins Vesperkirchen-Café in der Unteren Gerberstraße 9. Dort ist es »heimeliger und wärmer« als im hohen Kirchenraum, meint Birgit Hövel. »Und die hausgemachten Kuchen ziehen so!« Auch Hefezopf und Marmorkuchen sei »einfach was, das übers Nötigste hinausgeht«. Heike Brandt vom Leitungskreis brüht mit Ute Fries und Irene Holder den leckeren Weltladen-Kaffee auf. »Wie beim Bäcker dürfen sich die Leute den Kuchen hier selber an der Theke raussuchen«, sagt sie. »Käs- und Obstkuchen sind der Renner.«
»Man lernt neue Leute kennen.« Das ist einem 75-jährigen Café-Besucher wichtig, der »fast jeden Tag herkommt«. Am Mittwoch kam er etwa mit einem 49-Jährigen aus Frankfurt ins Gespräch. Dessen Schal mit dem Eintracht-Emblem lieferte Gesprächsstoff. Der Fußballfan besucht in Reutlingen seine Mutter. Ihm gefallen die »lieben Leute«. Bei »Armenspeisungen« in Frankfurt oder Würzburg sei das Publikum »viel aggressiver«. »Hier ist immer gute Stimmung«, stimmt Ralph Kuntz, der Kaufmännische Leiter des Diakonieverbands zu, der im Café Gerber gern privat die Mittagspause verbringt. Den Erfolg der Vesperkirche führt der 51-Jährige neben »Lebensmittelversorgung und der Funktion als Wärmeraum« darauf zurück, dass »die Menschen hier die Chance haben, beachtet und gehört zu werden«.
»Warum ich herkomm'? Weil's heut knapp mit'm Essen war«, erklärt eine 73-Jährige in der Nikolaikirche. Nach einer Schulterverletzung tue sie sich mit dem Selberkochen schwer. Im Gasthaus im Gotteshaus fühlt sie sich wohl. »Alle sind aufmerksam und ich werde freundlich bedient.«
Programm und Spenden
Zum ersten Mal gestaltet das Kindertheater Patati-Patata einen Nachmittag im Vesperkirchen-Rahmenprogramm: Am Samstag, 25. Januar, 16 Uhr zeigt es in der Nikolaikirche »Alex und die gelbe Maus« für Kinder ab 3 Jahren. Tante Friedas Jazzkränzchen treten am Donnerstag, 30. Januar, 19 Uhr auf. Neu dabei ist auch die Mundartgesellschaft Württemberg mit »Der Mensch für Menschen« von vier Mitwirkenden am Donnerstag, 6. Februar, 19 Uhr.
Den Schlussgottesdienst am Sonntag, 9. Februar, 15 Uhr, gestalten Vesperkirchenpfarrerin Birgit Hövel (Predigt) und der Stuttgarter Vesperkirchenchor »rahmenlos und frei« aus Stuttgart unter der Leitung von Patrick Bopp.
Das Benefizprogramm sowie die gesamte 28. Reutlinger Vesperkirche finanzieren sich ausschließlich über Spenden. Organisatoren, Helfer und Gäste freuen sich deshalb auch weiterhin über finanzielle Unterstützung ebenso wie über Sachspenden. Vor allem selbstgebackene Kuchen und Gebäck sind stets willkommen, sie können täglich ab 9 Uhr am hinteren Eingang der Nikolaikirche abgegeben werden.
Geldspenden erreichen ihren Zweck über das Konto mit der IBAN: DE 18 6405 0000 0100 0230 73 bei der Kreissparkasse Reutlingen, BIC: SOLADES1REU, Betreff: Vesperkirche. (dia)
Die pensionierte Lehrerin Brigitte Junger findet, »es macht richtig Spaß mitzuhelfen«. Obwohl sie danach körperlich spürt, was sie geleistet hat. Gegen Ende des Einsatzes schöpft sie übriggebliebene Gnocchi in Schalen fürs Männerwohnheim.
»Auch wenn manche Gäste gar nichts sagen, sie sind unter Leuten. Sie kommen, weil sie hier beieinander sind«, meint Birgit Hövel. »Ich hab das Gefühl, das ist wie eine Art Schutzraum. Den hüten alle. Wir wollen es hier gut und schön haben.« Die Vesperkirchenpfarrerin, der Leitungskreis und die Helfer erhalten von den Besuchern »ganz viel Lob zurück«. »Ihr seid Engel«, ist ein Satz, den sie in diesen vier Wochen des Jahres oft hört. (GEA)