REUTLINGEN. Premiere für die Minna-Specht-Schule und für Reutlingens Bildungslandschaft: Erstmals in der Geschichte der Achalmstadt sind es aktuell auch Gemeinschaftsschüler und nicht ausschließlich klassische Gymnasiasten, die sich den Abitur-Prüfungen stellen und demnächst mit der Allgemeinden Hochschulreife in ihre berufliche Zukunft starten werden.
Den schriftlichen Teil der Leistungstests haben sie bereits hinter sich gebracht. Anfang Juli ist dann »das Mündliche« an der Reihe. Und von da an stehen den Abiturienten der Minna-Specht-Gemeinschaftsschule dank höherer Bildungsweihen alle Karriere-Chancen offen. Zumal der Lernstoff in den Oberstufen von Gymnasien und Gemeinschaftsschulen identisch ist. Ebenso wie die Abi-Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Also alles eins?
Diagnose-Gespräche und Lerngemeinschaften
Mitnichten. Denn der Weg zur Allgemeinen Hochschulreife, den die Jugendlichen an der »Minna-Specht« beschritten haben, unterscheidet sich doch deutlich von dem allgemeinbildender oder beruflichen Gymnasien, die in der Regel weder kontinuierliche Diagnose-Gespräche noch Lernengemeinschaften kennen. Also Kleingruppen à maximal vier Oberstufen-Schüler, die bei freier Orts- und Zeitwahl ein von ihren Pädagogen vorgegebenes Lernstoffpensum bewältigen - im Team, nahezu autonom und nur bei Bedarf mit Unterstützung eines Fachlehrers.

Joshua Bronner (18) und Alexander Wunder (19) sind zwei von insgesamt 16 Prüflingen, die dank intensiver Begleitung (Coaching) und dank Kleingruppen-Arbeit zu den Akademikern von morgen zählen und voll des Lobes für die Abi-Hinführung in Klasse 11 bis 13 sind. Das Sich-Gegenseitig-Unterstützen, der Zusammenhalt innerhalb der Schülerschaft, aber auch die individuell zugeschnittenen Hilfen seitens der Fachlehrer: »Das war mega! Wir hatten super Support.«
Joshua und Alexander schauen zufrieden aus. Dazu haben sie auch allen Grund. Ist ihnen der schriftliche Teil des Abiturs doch gut von der Hand gegangen. Beide sind davon überzeugt, diese Hürde auf der Zielgeraden ihrer Schullaufbahn gemeistert zu haben. Nervös waren sie »nicht wirklich«, weil gründlich vorbereitet. »Unsere Leistungskurslehrer waren immer für uns da.« Sogar samstags. Enger, sind sich Joshua und Alexander einig, kann ein Schüler-Lehrer-Verhältnis kaum sein. »Das ist einzigartig.«
Exklusiver Lernraum für die Prüflinge
Einzigartig außerdem: dass die Oberstufler der Minna-Specht-Gemeinschaftsschule einen exklusiven Raum für ihre Prüfungsvorbereitungen gestellt bekommen haben. Der, erklärt Alexander, sei segensreich gewesen. Er selbst, lässt er wissen, komme aus einer großen Familie, in der es meist ziemlich trubelig zugehe. Die nötige Ruhe, um konzentriert arbeiten zu können, sei daheim jedenfalls nicht gegeben.
Weshalb für Alexander der spezielle Abiturientenraum so etwas wie ein Lernrefugium gewesen sei. Sogar ein eigener Schlüssel wurde ihm und den übrigen Abi-Anwärtern von Rektor Dr. Matthias Riemer ausgehändigt - um auch jenseits der regulären Unterrichtszeiten ungestört »pauken« zu können: täglich - außer sonntags - zwischen 7 und 22 Uhr.
Besagter Schlüssel ist für die beiden jungen Reutlinger ein »starker Vertrauensbeweis«, der sie sichtlich stolz macht. Ehrensache, dass keiner der »Minna-Specht«-Pennäler damit Schindluder getrieben hat. Man sei sich bewusst, dass »das ein Privileg ist«.
Das ihnen von Riemer und Kollegium entgegengebrachte Vertrauen habe sich wie ein Motivations-Booster ausgewirkt. »Wir sind daran gewachsen«, sagt Alexander, der noch vor vier, fünf Jahren »nicht damit gerechnet« hätte, die Minna-Specht-Gemeinschaftsschule mit dem Reifezeugnis in der Tasche zu verlassen. »Ich dachte, der Realschulabschluss reicht mir.« Doch dann sei ihm klar geworden, dass die »Minna-Specht« deutlich »mehr zu bieten hat. Da habe ich mir gesagt: 'Das nimmst du mit'.«
Hinzu kamen Lehrer, die Alexander klar signalisierten, dass er's packt. »Die haben mir gesagt: 'Du kannst mehr, nutze die Gelegenheit'. Naja, und ich habe sie genutzt.« Während Joshua, der als Sechstklässler vom Gymnasium (»Da habe ich mich nicht wohl gefühlt. Das war keine gute Zeit.«) an die Gemeinschaftsschule wechselte, nie ernsthaft in Zweifel gezogen hatte, sein Abi zu »bauen«.
Sprung aus der Komfortzone
Dessen ungeachtet war für ihn der »Leistungssprung in die Oberstufe« trotzdem ein Sprung raus aus seiner bisherigen Komfortzone. »Es wurde plötzlich alles viel stressiger.« Umso mehr, als Joshua zuvor wenig Zeit in Schule investiert hatte. »Richtig faul«, betont er, »bin ich zwar nicht gewesen, aber ich hatte das Glück, mit wenig Aufwand ganz ordentlich durchzukommen.«
Damit war ab Klasse 11 Schluss. Als belastend habe er die letzten Kilometer auf dem Weg zur Reifeprüfung indes trotzdem nicht empfunden. Was ihn mit Alex eint. Für beide waren die zurückliegenden drei Oberstufenjahre vor allem »spannend« und von einem hohen Maß an »Teamspirit« geprägt. Alexander spricht davon, dass ihm »selbstbestimmtes Lernen zu Selbstbewusstsein« verholfen hat.
Er ist übrigens ein typischer Vertreter der »Spezies« Minna-Specht-Gemeinschaftsschüler. Einer, der erleben durfte, dass das »Aufstiegsversprechen« seiner Bildungseinrichtung keine leere Phrase ist, und einer, auf den präzise zutrifft, was Rektor Riemer gelassen ausspricht: »Wir haben in Klasse 5 noch keine Gymnasiasten. Wir machen sie.«

Im ersten Reutlinger Gemeinschaftsschul-Abi-Jahrgang sind es 16 Absolventen, die einen langen Atem bewiesen und sich der Reifeprüfung gestellt haben. Ursprünglich waren es sogar 44, von denen sich jedoch das Gros umorientiert hat. »Einige«, weiß Mathematiklehrerin Dr. Christine Plicht, »wollten letztlich doch lieber eine Ausbildung machen, andere haben sich für die Fachhochschulreife entschieden«.
Dass also »nur« ein starkes Drittel am Ball geblieben ist - sie und Matthias Riemer werten's keinesfalls als Misserfolg. Im Gegenteil. Ist es ihnen doch ein pädagogisches Anliegen, Jugendliche zu selbstbestimmten, reflektierten Bildungsentscheidungen zu ermuntern. Und dazu gehört zweifellos auch die freie Wahl des Schulabschlusses.
Medizinstudium und Polizeihochschule
Nun, Joshua Bronner und Alexander Wunder haben der Allgemeinen Hochschulreife den Vorzug gegeben und bereuen diesen Entschluss nicht. Vielmehr freuen sie sich auf das, was nach der Abi-Fete, die am 11. Juli steigen wird, kommt. Pläne haben sie bereits geschmiedet. Joshua möchte gern ein Jahr lang mit dem Programm »Work & Travel« nach Neuseeland und liebäugelt im Anschluss mit einem Medizinstudium. Derweil Alexander ein duales Studium an der Hochschule für Polizei in Villingen anstrebt und sich - so er einen Platz ergattern kann - damit einen Traum erfüllt. »Ich wollte schon mit 13 zur Polizei.« (GEA)