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Ein Urgestein des Reutlinger Handwerks tritt ab

Am Mittwoch, 20. November, entscheidet sich, wer künftig Präsidentin oder Präsident der Handwerkskammer Reutlingen ist. Bei der ersten Sitzung der neuen Vollversammlung wird die Nachfolge von Harald Herrmann geregelt, der nach zehn Jahren gemäß Kammersatzung altersbedingt aufhören muss.

Harald Herrmann hört nächste Woche nach zehn Jahren als Präsident der Handwerkskammer Reutlingen auf. Foto: Frank Pieth
Harald Herrmann hört nächste Woche nach zehn Jahren als Präsident der Handwerkskammer Reutlingen auf.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Seit 25. November 2014 steht Harald Herrmann, Reutlinger Fliesenlegermeister und Betriebswirt des Handwerks, als Präsident an der Spitze der Handwerkskammer Reutlingen. Er ist ein für das deutsche Handwerk typischer Kleinunternehmer. In den zehn stets zwischen Weihnachten und Neujahr angesetzten Gesprächen mit dem GEA hat er die Situation des Wirtschaftszweigs glaubwürdig und anschaulich beschrieben: das familiäre Miteinander zwischen dem Meister, den Gesellen und den Lehrlingen; die relativ krisensicheren Arbeitsplätze, weil die Betriebe anpassungsfähig seien – und auch weil ein Handwerker aufgrund der Nähe zu seinen Mitarbeitern ein Vierteljahr lang schlecht schlafe, bevor er jemanden entlasse, wie Herrmann es formuliert; die abwechslungsreichen Aufgaben, die täglich bis zum Abend zu sichtbaren Ergebnissen führen.

Harald Herrmann ist ein hervorragender Repräsentant seiner Branche. Er tritt gegenüber Politik, Verwaltung und Medien immer respektvoll auf und argumentiert sachlich und freundlich im Ton, setzt sich dabei für die Belange des Handwerks ein und wirbt für praxisorientierte Lösungen. Für die Handwerkskammer Reutlingen ist dieser Frühaufsteher und Kurzurlauber, der 300 Meter vom Kammergebäude wohnt, auch wegen seines hohen Engagements im Präsidentenamt eine Idealbesetzung.

Er pendelt zwischen Wohnung und Betrieb, Baustellen und Kammer, Hauptbeschäftigung und Ehrenamt. »Es ist keine Schande, dreckige Finger zu bekommen«, sagt Herrmann, in Arbeitskleidung, und versucht, junge Menschen fürs Handwerk zu begeistern. Der »Meister-im-sich-Umziehen« vertritt wenig später, im Anzug, die Reutlinger Kammer im Gespräch mit Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut in Stuttgart. An vielen Sonntagen saß er im Präsidentenbüro und erledigte Verwaltungsarbeit.

Reutlinger Handwerkskammer ist schuldenfrei

»Wenn man es ernsthaft macht, ist es anstrengend neben dem Hauptjob«, erklärt er nun im Abschiedsgespräch mit dieser Zeitung. Er habe so viele Termine wie möglich wahrgenommen, um die Lage an der Basis und in den sehr unterschiedlichen Handwerksgewerken zu überblicken. Zudem habe er ein Zeichen gegenüber den Mitgliedsbetrieben setzen wollen: »Wenn der Präsident eingeladen wird, wollen die Leute auch den Präsidenten sehen.« Viel Freude habe es ihm bereitet, den »Lehrling des Monats« auszuzeichnen. Dies habe er eingeführt, um regelmäßig in Betriebe zu kommen, die Arbeit der Kammer dort darzustellen – und gegebenenfalls über einen Bericht in den Medien für das Handwerk zu werben.

Er schätzt, dass er insgesamt etwa 80.000 Kilometer als Kammerpräsident gefahren sei – im weitläufigen, fünf Landkreise umfassenden Kammerbezirk, aber auch zu Treffen mit den sieben weiteren baden-württembergischen Handwerkskammerpräsidenten. »Es war eine tolle Zeit. Mir hat das Amt Spaß gemacht«, zieht er Bilanz.

Nach zwei jeweils fünf Jahre dauernden Amtsperioden kann Herrmann nicht mehr als Präsident kandidieren. Denn in Paragraf 15 der Kammersatzung steht: »Bewerber für das Amt des Präsidenten (...) dürfen am Wahltag das 65. Lebensjahr nicht überschritten haben.« Herrmann hat am 14. März dieses Jahres sein 65. Lebensjahr vollendet. »Für mich war klar, dass die Altersgrenze da ist und meine Amtszeit im Herbst 2024 endet«, stellt er fest.

Das ist die Handwerkskammer Reutlingen

Es ist eine Besonderheit des Wirtschaftsstandorts, dass Reutlingen eine Handwerkskammer hat. Denn in Deutschland gibt es lediglich 53 Handwerkskammern. Zu ihren Aufgaben gehören das Führen der Handwerksrolle, Aus- und Weiterbildung, Beratung (zum Beispiel in rechtlichen, technischen, betriebswirtschaftlichen und Umweltfragen) sowie Interessenvertretung für alle Handwerker – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – ihres Bezirks gegenüber Politik und Verwaltung. Die Handwerkskammer Reutlingen ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und wird vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium beaufsichtigt. Ihr Kammerbezirk umfasst die Landkreise Freudenstadt, Reutlingen, Sigmaringen, Tübingen und Zollernalb mit insgesamt 107 Städten und Gemeinden. In diesem Gebiet gibt es 13.800 Handwerksbetriebe mit zusammen knapp 80.000 Beschäftigten (einschließlich etwa 4.200 Auszubildenden). Ehrenamtliche Präsidenten und hauptamtliche Geschäftsführer (in Reutlingen derzeit Christiane Nowottny) leiten Handwerkskammern.

Friedrich Fischle (1900 bis 1907), Karl Vollmer (1907 bis 1922), Otto Henne (1922 bis 1933), Philipp Baetzner (1933 bis 1939) und Eugen Vogt (1939 bis 1943) waren die Reutlinger Präsidenten vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach folgten: Alfred Geisel (1945 bis 1974), Ernst-August Karrer (1974 bis 1984), Günther Hecht (1984 bis 1999), Joachim Möhrle (1999 bis 2014) und Harald Herrmann (seit 2014). (rog)

Über 30 Jahre hat er für die Handwerkspolitik aufgewandt. »Für mich war das immer wichtig. Andere spielen Golf oder Tennis. Ich mache – mit Rückendeckung meiner Frau Sabine – halt das«, erzählt er. Von 1994 bis 2012 war er Obermeister der Fliesenleger-Innung Reutlingen, von 2001 bis 2014 Reutlinger Kreishandwerksmeister. Seit 1999 gehört er der Vollversammlung und dem Vorstand der Handwerkskammer Reutlingen an.

Die Kammer habe sich in dieser Zeit von einer Verwaltungsbehörde immer stärker zu einem »wirklich guten Dienstleistungsbetrieb« entwickelt, merkt er an. Die 100 Kammerbeschäftigten hätten verinnerlicht, dass die Mitgliedsbetriebe das Geld erwirtschaften müssten, damit ihre Gehälter gezahlt werden könnten. Die Betriebe nähmen die Hilfe der Kammermitarbeiter gerne in Anspruch – zum Beispiel bei Rechtsfragen, oder bei der Nachfolgeplanung.

In Herrmanns Amtszeit fielen hohe Investitionen. Die Kammer steckte 15 Millionen Euro in die Modernisierung ihrer Bildungsakademie in Tübingen-Derendingen und in den Neubau eines Internats dort. Vom Bund gab es dafür einen Zuschuss von 5,802 Millionen Euro und vom Land 3,868 Millionen Euro. Es sei ein schönes Erlebnis für ihn gewesen, als er kurz vor Weihnachten 2017 von Ministerin Hoffmeister-Kraut einen symbolischen Scheck erhielt: »Ich bekomme wohl nie wieder einen Scheck in dieser Höhe überreicht.« Die energetische Sanierung des Reutlinger Kammergebäudes und die Renovierung der Tiefgarage dort kosteten über 3 Millionen Euro. Herrmann sagt, er sei stolz darauf, dass er trotz der hohen Investitionen in seiner Amtszeit keine Erhöhung der Kammerbeiträge beschließen lassen musste und die Kammer nun schuldenfrei übergeben könne.

Als »Privileg« empfinde er es, dass er insgesamt in einer konjunkturell guten Zeit Kammerpräsident sein durfte. Herausfordernd sei natürlich die Corona-Krise gewesen, in der etwa Friseure, Kosmetikerinnen und Fotografen unter starken Einschränkungen litten. Glücklicherweise sei es in Gesprächen mit Politik und Verwaltung gelungen, das eine oder andere Problem dabei zu lindern. Aktuell seien vor allem Bauhandwerke und Industriezulieferer vom Mangel an neuen Aufträgen betroffen.

Enkel und Oldtimer

In seiner ersten Amtszeit stellte Herrmann die Integration vieler Flüchtlinge als Chance zur Verringerung des Fachkräftemangels im Handwerk dar. Er merkte jedoch an, dass es lange dauern werde, bis die entsprechenden Deutsch-Kenntnisse und fachliche Qualifikationen vorlägen. In seiner zweiten Amtszeit begleitete er etliche Personalentscheidungen in der Kammer – unter anderem den Wechsel in der Hauptgeschäftsführung von Joachim Eisert, der Ende März dieses Jahres nach 17 Jahren in Ruhestand ging, zu Christiane Nowottny.

»Allein bringst du wenig hin, zusammen viel«, sagt Herrmann. Er habe immer Personen um Rat fragen können – vor allem die Kammerbediensteten und die Mitglieder im Vorstand. Er hebt die sehr gute Zusammenarbeit mit dem Vizepräsidenten der Arbeitnehmerseite, Harald Walker, hervor und bemerkt: »Es darf in diesem Haus nichts passieren, das die Arbeitnehmerseite nicht weiß.« Da gehe es in anderen Kammern anders zu.

Herrmann hat in seinem Reutlinger Fliesenfachgeschäft inzwischen keine Beschäftigten mehr. »Ich werde wohl noch zwei Jahre als Ein-Mann-Unternehmer Privatkunden-Projekte machen«, erklärt er. Der verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder will künftig mehr Zeit mit seinen beiden Enkelkindern verbringen und mehr mit seinen beiden Oldtimern unterwegs sein. (GEA)