REUTLINGEN. Eine Luther-Statue oben auf dem Schrank, die Gitarre in der Ecke. »Ja, wir singen manchmal«, sagt Dr. Joachim Rückle und lacht. Das lichtdurchflutete Büro hoch droben im dritten Stock des Diakoniegebäudes wirkt so aufgeräumt wie der nicht mehr ganz neue Geschäftsführer des Diakonieverbandes Reutlingen selbst. Die ominösen hundert Tage sind vorbei, Zeit für eine erste Bilanz. Keine Sekunde habe er seine Bewerbung bereut, sagt der 51-Jährige, der so ganz mit sich und der Welt im Reinen wirkt. »Ich kann hier etwas bewirken. Intern und als Teil der Stadt.«
Vor allem Letzteres ist ein Mehrwert gegenüber seiner vorhergehenden Stelle als Abteilungsleiter Theologie und Bildung im Diakonischen Werk Württemberg mit Sitz in Stuttgart, wo die Außenwirkung eher gering war. Diakonie war kein Neuland für Joachim Rückle. Der Einstieg ins neue Amt gestaltete sich geschmeidig, auch weil er einen Monat lang mit seinem Vorgänger Günter Klinger zusammenarbeitete. Eine wertvolle und hilfreiche Zeit, sagt Rückle, um »ein Gefühl zu bekommen für die Dinge«.
Und für die Menschen. Die Mitarbeiter, die Ehrenamtlichen, die Klienten. Ein Zufall und Glücksfall, dass seine Anfangszeit mit der Vesperkirche zusammenfiel, wo es gleich die geballten Kontakte gab. »Das war natürlich toll.« Vesperkirchen sind Rückle nicht fremd, aber so hautnah wie in Reutlingen erlebte er sie vorher nicht. »Das macht einen Riesenunterschied zum theoretischen Wissen, wenn man dort jeden Tag zu Mittag isst.« Jede Vesperkirche sei anders, sagt der studierte Theologe.
»Ich kann mit meinen Ideen ja nicht ein Jahr warten«
Die Reutlinger Variante bezeichnet er schon wegen des Miteinanders von Diakonie, Citykirche, Arbeiterwohlfahrt, Ökumene als besonderes Konstrukt. »Das finde ich klasse.« Klasse findet er auch, dass hier die Menschen, die »am Rand stehen«, selbst mithelfen. Die Diakonie sei für diejenigen da, die Unterstützung brauchen, stellt er klar. Aber nicht Fürsorge, sondern Teilhabe heiße das Schlüsselwort. Ob die Beschäftigung in der Vesperkirche oder in den Tafelläden: »Das sind Orte, wo sie sich als wirksam erleben.«
Er sehe, sagt Joachim Rückle, einen starken Zusammenhang zwischen sozialen und ökologischen Themen. Nicht zu viel Essen ausgeben, damit nichts weggeworfen werden muss, Plastik vermeiden – in der Vesperkirche fand er diesen Gedanken wieder. Auf seinen Vorschlag hin wird es im nächsten Jahr einen vegetarischen Tag geben. »Es geht darum, auch hier Signale zu setzen: Es ist nicht egal, was wir essen.«
Nachhaltigkeit, Bewahrung der Schöpfung – wichtige Anliegen für Rückle, der vor seinem Wechsel zum Diakonischen Werk Stuttgart Pfarrer in Pliezhausen war. Als eine seiner ersten Amtshandlungen in Reutlingen hat er die vier Diakonie-Diensträder flottgemacht. »Dinge, die wirtschaftlich sind, tun einem auch gut«, grinst Joachim Rückle, der mit seiner Familie im Ringelbach wohnt, fast alle Strecken mit dem Rad zurücklegt und auch liebend gerne auf die Alb strampelt. In einer Rundmail empfahl er den Mitarbeitern, zu Terminen in Stuttgart mit der Bahn zu fahren. Infos über Tickets und Preise lieferte er gleich mit. »Man muss das Bewusstsein wecken«, meint er. Und Impulse setzen. »Ich kann mit meinen Ideen ja nicht ein Jahr warten.«
Erste Priorität bei seinem Amtsantritt war es, in persönlichen Gesprächen die rund 70 Mitarbeiter kennenzulernen. »Das ist das A und O.« Diese Mammutaufgabe hat er inzwischen hinter sich. Ergebnis: »Wir haben tolle, motivierte Leute. Ich habe schnell gespürt, dass es eine sehr gute Basis gibt, auch in der Vielfalt.«
Die Förderung der verschiedenen Diakonie-Standorte sei ein Verdienst von Günter Klinger gewesen. »Da knüpfe ich nahtlos an.« Die Präsenz in der Fläche sei zwar mit Aufwand verbunden, aber enorm wichtig. Nahtlos anknüpfen möchte er auch an die gute Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern – ob Liga, Landkreis oder Stadt. »Das ist eine unheimlich gute Kultur und ein sehr vertrauensvolles Miteinander.«
Und das, sagt Rückle, ist deshalb so wichtig, weil die »zentralen Herausforderungen nur gemeinsam bearbeitet werden können«. Als Beispiel nennt er den Umgang mit Geflüchteten. In der Arbeit vor Ort werde immer deutlicher, dass das sogenannte »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« von Minister Seehofer (»ein Integrationsverhinderer«) von einer massiven Unkenntnis der Problemlage zeuge. Denn es dränge immer mehr Menschen in die Illegalität. »Wir bräuchten dringend ein Angebot für Geflüchtete mit schlechter Bleibeperspektive.« Eine Beschäftigung auf Zeit, konkretisiert er, damit sie ohne Gesichtsverlust zu ihren Familien zurückkehren können. »Die Nachfrage ist da, die Firmen stehen Schlange«, weiß er von seinem Jobmentor. Und überhaupt gibt es noch viel zu tun in Sachen Integration, findet Joachim Rückle. »Wir sind beileibe keine offene Gesellschaft. Das wird so hingenommen, und das ist menschenverachtend.«
»Wünschenswert wäre, das offener zu gestalten«
Ein weiteres Schwerpunktthema ist für Rückle die Tafelarbeit. In Reutlingen, Metzingen, Bad Urach und Münsingen betreibt die Diakonie Läden und hilft damit Menschen mit knappem Budget. Und der Umwelt, weil Lebensmittelüberschüsse verringert werden. Doch da ginge noch mehr, findet der neue Diakonie-Chef. Nach wie vor hafte den Tafelläden das Stigma der Bedürftigkeit an, entsprechend groß sei die Hemmschwelle, sich dort zu versorgen. »Wünschenswert wäre, das offener zu gestalten.« Er denkt an Jüngere, Studierende vor allem. Vorstellen könnte er sich ein »Tafelkochen« als Challenge für junge Leute, die derzeit ohnehin hoch sensibilisiert fürs Thema Nachhaltigkeit sind. Und er setzt auf mehr Öffentlichkeitsarbeit, um klarzumachen, »dass es keinen Grund gibt, nicht in einen Tafelladen zu gehen«.
Projekte zu gesellschaftlich relevanten Themen sieht Rückle als notwendige Ergänzung zur breit gefächerten Beratungsarbeit der Diakonie. Neben Integration und Tafelarbeit nennt er sozialen Wohnraum als einen weiteren Bereich, zu dem auch die Diakonie einen Beitrag leisten könnte. Schon sehr konkret in Zusammenhang mit dem geplanten Diakoniezentrum, vielleicht aber auch darüber hinaus. Ältere, die Häuser mit viel Platz haben, sich aber einsam fühlen – da könnte es doch interessant sein, Modelle des Zusammenlebens zu entwickeln, denkt er laut nach. Das tut er öfters. »Ich nehme Dinge wahr, entwickle Ideen, die sich in Gesprächen mit anderen verdichten.« Er gestalte gerne, sehe sich als Sozialtüftler. »Das ist meine Prägung«, sagt der gebürtige Hessigheimer. Der Vater war Mechaniker, konstruierte alles Mögliche. Der Sohn tut’s ihm nach – im Sozialen. »Wo sind Bedarfe, wo werden Menschen ausgegrenzt, was kann man tun«, nennt er die Fragestellungen. Das Rad neu erfinden will er nicht. Denn, so seine Maxime: »Das Neue besteht in der Kombination von Vorhandenem.« (GEA)