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Ein Leben ohne Qualität

REUTLINGEN. »Man kann wohl irgendwie davon leben, aber ohne jede Lebensqualität«, so lautet die erste Zwischenbilanz von Andreas Eisenhardt, nachdem seine Familie eine Woche lang mit dem Hartz-IV-Nahrungsmittelbudget gewirtschaftet hat. Mit Lebensqualität meint Eisenhardt – nicht nur, aber auch – an sich bescheidene Genüsse wie die Brezel und den Cappuccino beim Bäcker, die er sich am Tag zuvor leise grummelnd verkniffen hat. Das seit Langem vereinbarte Essen mit Freunden verkneift er sich nicht, obwohl es im knappen Etat natürlich erst recht nicht drin ist.

Für siebzehn Euro bekommen die Eisenhardts, die an der Caritas-Fastenaktion »Vier Wochen mit Hartz IV« teilnehmen, direkt beim B
Für siebzehn Euro bekommen die Eisenhardts, die an der Caritas-Fastenaktion »Vier Wochen mit Hartz IV« teilnehmen, direkt beim Bauern eine ganze Kiste Äpfel und Birnen. Doch dafür braucht es ein Auto und eine Möglichkeit, das Obst richtig zu lagern. Foto: Elke Schäle-Schmitt
Für siebzehn Euro bekommen die Eisenhardts, die an der Caritas-Fastenaktion »Vier Wochen mit Hartz IV« teilnehmen, direkt beim Bauern eine ganze Kiste Äpfel und Birnen. Doch dafür braucht es ein Auto und eine Möglichkeit, das Obst richtig zu lagern.
Foto: Elke Schäle-Schmitt
Genau 148,80 Euro pro Woche stehen dem 49-Jährigen, seiner Frau Gabriele Blum-Eisenhardt und ihren drei Sprösslingen im Alter von 13, 15 und 19 Jahren insgesamt für Essen und Getränke zu. Am Ende der Woche sitzt Gabriele Eisenhardt über einer langen Liste, in der sie die Ausgaben festgehalten hat – auch die Dinge, die zwar verbraucht, aber nicht neu gekauft wurden, weil sie noch im Haus waren.
»Wir trinken Leitungswasser, das kostet fast nichts«
»Ganz schön mühsam, so eine Buchhaltung«, meint der Familienvater, während seine Frau den Taschenrechner zur Hand nimmt. 130 Euro haben die Fünf für ihre Ernährung ausgegeben. Aber halt! Da fehlt noch das Mittagsvesper des ältesten Sohnes, der eine Schreinerausbildung macht. »Und der Kaffee, den ich im Büro trinke, ist auch nicht dabei«, ergänzt Eisenhardt.

Als selbstständiger Sozialpädagoge hat er sein Arbeitszimmer im Nebenhaus. Je länger die beiden nachdenken, desto mehr Positionen fallen ihnen ein, die noch nicht auf der Liste stehen. »Wir trinken Leitungswasser, das kostet fast nichts«, überlegt Eisenhardt. »Aber wir haben einen Filter und ein Sprudelgerät dafür«, fährt er fort, »die mussten ja erst mal angeschafft werden. Und die Kartuschen sind regelmäßig zu wechseln.«

Würde man all das einkalkulieren, wäre ihr Wochenetat mehr als erschöpft, da sind sich die beiden einig. Und zwar, obwohl sie Gemüse aus dem Garten eingefroren haben, Kartoffeln sackweise beim Bauern kaufen und auch andere Lebensmittel in günstigen Großmengen besorgen. »Als echte Hartz-IV-Empfänger hätten wir weder einen Garten, noch könnten wir uns Vorräte zulegen«, ist ihnen bewusst. »Denn für Großeinkäufe braucht man zum einen ein Auto, zum anderen muss man da eine ordentliche Summe vorschießen.«
»Das Schlimmste ist wohl die Perspektivlosigkeit«
Auch Ute M.* hat Ende letzter Woche eine Liste erstellt, im Voraus für den kommenden Monat. 688 Euro hat ihr das Amt überwiesen. Davon ist außer der Warmmiete alles zu bestreiten, was sie und der dreizehnjährige Niko* brauchen. Zieht sie sämtliche festen Kosten wie Strom, Telefon oder die übertragbare Naldo-Monatskarte ab, die sie sich mit ihrem Sohn teilt, und gibt sie der Nachbarin die sechzig Euro zurück, die sie sich für drei Bahnfahrten nach Stuttgart geborgt hat, wo ihr Vater seit Wochen im Krankenhaus liegt, so bleiben der zweiköpfigen »Bedarfsgemeinschaft« 366 Euro für den gesamten März.

»Damit kann man überleben, aber nicht leben«, bestätigt die Fünfzigjährige die Einschätzung von Andreas Eisenhardt. Weh tun ihr vor allem die Einschränkungen, mit denen ihr Sohn zurechtkommen muss. »Neulich war Niko dreimal in einem Monat zum Geburtstag eingeladen«, erzählt sie. Für andere Mütter ein erfreuliches Zeichen dafür, dass ihr Kind beliebt ist. Für Ute M. ein Desaster, denn dreimal zehn Euro für ein Geschenk, das ist einfach nicht drin. »Beim dritten Mal hat er gesagt, er muss an dem Nachmittag zum Zahnarzt.«

Anders als die Eisenhardts geht Ute M. zu Fuß einkaufen. Eine Viertelstunde ist sie mit ihrem Trolley zum Discounter unterwegs. Milch vom Bauernhof, wie die Eisenhardts sie in der Null-Grad-Zone ihres Kühlschranks bevorraten, können Ute M. und Sohn Niko wegen einer Nahrungsmittelunverträglichkeit ohnehin nicht trinken. Ob Armut krank macht oder Krankheit arm, die Frage ist zu theoretisch, um Ute M. zu interessieren. Fakt ist, dass sie nach einer Bandscheibenoperation und wegen der Arthrose in ihren Knien und Füßen seit einem halben Jahr krankgeschrieben ist.

Fakt ist auch, dass sie für einen Liter laktosefreie Milch 1,29 Euro und für ein Kilo Dinkelmehl 1,65 Euro bezahlt. Ganz genau hat sie die Preise im Kopf; auf den Cent genau weiß sie auch, um wie viel billiger sie mit normaler Milch und normalem Mehl vom Discounter wegkäme. Das vom Kinderarzt empfohlene Asthmaspray für Niko, das die Kasse nicht übernimmt, spart sie sich vom Mund ab. »Nur« vier Euro kostet es im Monat – für jemanden, der keinen Cent auf der hohen Kante hat und dessen Geld meist bloß für drei von vier Wochen reicht, eine echte Belastung.

An größere Katastrophen mag sie gar nicht denken, etwa daran, dass der Kühlschrank kaputtgehen könnte. Null-Grad-Zone? Von so was kann Ute M. nur träumen. Zehn Jahre ist ihre Kühl-Gefrier-Kombination alt und frisst entsprechend Strom.

»Damals hatte ich einen Vollzeitjob, da konnte ich mir den leisten«, murmelt sie und streicht mit der Hand über den Kühlschrank, das Einzige, was in dieser Küche je neu angeschafft wurde. Alles andere stammt aus dem Secondhandladen, wie die übrige Wohnungseinrichtung auch. Ute M. stört sich nicht dran. Blitzsauber und gemütlich wirkt die GWG-Wohnung, trotz der zusammengestoppelten Gebrauchtmöbel. Auch dass fast all ihre Kleidung vor ihr schon jemand anders getragen hat, ist kein großes Problem für sie.
»Als echte Hartz-IV-Empfänger hätten wir keinen Garten«
Wohl aber für ihren Sohn. Der fühlt sich ohne angesagte Klamotten als Außenseiter. Und Zehn-Euro-Turnschuhe sind nicht nur schlecht fürs Image. Der Arzt hat Ute M. Einlagen für ihre Füße verschrieben, doch der orthopädische Schuhmacher zuckte nur mit den Schultern, als sie ihm das Rezept vorlegte. Er wolle ihr nicht zu nahe treten, meinte er, aber in solche Schuhe könne er keine Einlagen einpassen. Solideres Schuhwerk gibt es jedoch nicht auf Rezept.

»Das Schlimmste«, meint Andreas Eisenhardt nachdenklich, »ist wohl die Perspektivlosigkeit.« Dabei kommt ihm sein Ältester in den Sinn. »Wenn man ein Ziel vor Augen hat – etwa den Führerschein, auf den man spart –, kann man für eine gewisse Zeit auf vieles verzichten.« Beim Stichwort Führerschein zuckt Ute M. zusammen.

Ihr großer Sohn, zwei Jahre älter als der von Eisenhardts, hat unlängst seine Zimmermannslehre abgeschlossen und ist von zu Hause ausgezogen. Doch er wurde nur befristet übernommen: Wenn er bis Juli keinen Führerschein vorweisen kann, ist die Stelle futsch. Als er beim Jobcenter um einen Zuschuss bat, wurde ihm bedauernd mitgeteilt, der könne erst gewährt werden, wenn er arbeitslos sei.

Testfamilien-Vater Andreas Eisenhardt hat wohl recht: Das Schlimmste ist die Perspektivlosigkeit. (GEA)

*Namen von der Redaktion geändert