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Droht Angeklagtem, der Mädchen in Reutlingen missbrauchte, die Sicherungsverwahrung?

Die Suche nach einer Verständigung im Mammutprozess mit 30 Verhandlungstagen scheiterte bisher. Die Staatsanwaltschaft sieht einen »Deal« als problematisch an.

Vor dem Tübinger Landgericht muss sich derzeit ein 37-Jähriger aus Ostdeutschland verantworten, dem vorgeworfen wird, mehrere mi
Vor dem Tübinger Landgericht muss sich derzeit ein 37-Jähriger aus Ostdeutschland verantworten, dem vorgeworfen wird, mehrere minderjährige Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Foto: Tom Weller/dpa
Vor dem Tübinger Landgericht muss sich derzeit ein 37-Jähriger aus Ostdeutschland verantworten, dem vorgeworfen wird, mehrere minderjährige Mädchen sexuell missbraucht zu haben.
Foto: Tom Weller/dpa

REUTLINGEN. Ein umfangreiches Geständnis für eine mildere Strafe – um einen solchen »Deal« ging es nun auch im Prozess um einen 37-jährigen Angeklagten, der über Jahre hinweg mehrere minderjährige Mädchen, eins von ihnen stammt aus Reutlingen, missbraucht hat. Vor allem die Staatsanwaltschaft lehnte den »Deal« aber ab. In diesem Fall sei »ein klassischer Verständigungsvorschlag komplett ungeeignet«, meinte Oberstaatsanwältin Rotraud Hölscher am Montag vor dem Tübinger Landgericht. Der Prozess geht nun erst einmal in voller Länge mit insgesamt 30 Verhandlungstagen weiter.

In der Juristensprache heißt es nicht »Deal«, sondern »Verständigungsvorschlag«. Das bedeutet: Alle Seiten, Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, setzen sich zusammen und beraten, wie man einen Mammutprozess abkürzen könnte. Am Ende dieser Beratungen steht dann meist ein Vorschlag des Gerichts, welche Strafe sich der Angeklagte erhoffen kann, wenn er umfangreich gesteht.

Sicherungsverwahrung steht im Raum

Für alle kann das von Vorteil sein. Bei einer Verständigung braucht man nicht mehr so viele Zeugen, der Prozess kann maßgeblich verkürzt werden. Die Justiz spart Zeit und Ressourcen und der Angeklagte kann Milde erwarten. Was aber am wichtigsten ist: Die Opfer müssen nicht noch einmal vor Gericht aussagen. Darum ging es jetzt auch in diesem Prozess um den vielfachen Missbrauch von Kindern.

Nach dem ersten Verhandlungstag (der GEA berichtete) kündigte der Vorsitzende Richter der 3. Großen Jugendkammer des Tübinger Landgerichts, Dirk Hornikel, an, mit der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung nach einer Verständigung zu suchen. Das Gespräch dauerte rund eine Stunde, was dabei herausgekommen ist, erläuterte Hornikel am Montag.

Das Gericht habe sich noch nicht genügend vorbereiten können, um einen genauen Verständigungsvorschlag auszuarbeiten, so der Richter. Ein solcher Vorschlag ist für die Jugendkammer auch nicht so einfach, weil für den Angeklagten offenbar eine Sicherungsverwahrung oder eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Maßregel) im Raum steht.

Angeklagter macht derzeit noch keine Angaben

Hornikel machte allerdings eine Andeutung, wo die »Reise« hingehen könnte. Ein umfangreiches Geständnis eines Angeklagten führe normalerweise dazu, dass ein Urteil um ein Drittel oder ein Viertel niedriger ausfalle als ohne Geständnis. Im Fall des 37-jährigen Angeklagten bedeutet dies: Nach derzeitigem Stand müsste er mit einer Strafe rechnen, die bei mehr als zehn Jahren liegt. Mit Geständnis läge sie »im oberen einstelligen Bereich«, erklärte Hornikel.

Doch Oberstaatsanwältin Hölscher hält eine Verständigung gerade im Hinblick auf eine mögliche Sicherungsverwahrung des Angeklagten (mit oder ohne Vorbehalt) für problematisch. Der »Deal« kam also vorerst nicht zustande. Und Verteidiger Gauss meinte danach, sein Mandant werde »derzeit noch keine Angaben machen«. Weder zur Sache noch zur Person.

Dafür machte der Ermittlungsführer der Polizei ausführliche Angaben, was die vorgeworfenen Taten des Angeklagten angeht. Diese Ausführungen dauerten recht lange, weil die Zahl der minderjährigen Opfer (im Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren) so hoch ist.

Eine Vielzahl von kinderpornografischen Fotos und Videos

Eines der missbrauchten Mädchen kommt aus Reutlingen. Ihre Eltern fanden zufällig Hinweise auf dem Handy des Kindes, die auf ein sexuelles Verhältnis zwischen ihrer minderjährigen Tochter und einem erwachsenen Mann hindeuteten. Sie gingen zur Polizei und erstatten am 23. Januar 2024 Anzeige. So kam der Fall ins Rollen.

Die Polizei ermittelte und stieß nach und nach auf immer mehr Opfer. Es folgte eine Hausdurchsuchung beim Angeklagten, der in Ostdeutschland lebt. Die Ermittler konfiszierten jede Menge Datenträger und entdeckten darauf eine Vielzahl von kinderpornografischen Fotos und Videos. Dieses Material hatte der 37-Jährige fein säuberlich in digitalen Ordnern abgelegt. Viele Ordner trugen den Namen der missbrauchten Mädchen, was der Polizei die Suche nach den mutmaßlichen Opfern erleichterte.

Die Kripo ermittelte über zwanzig Namen. Fast alle Mädchen hatte der Angeklagte übers Internet kennengelernt. Meist hatte er sich jünger ausgegeben, als er in Wirklichkeit war. Mit einigen der Mädchen traf er sich und überredete sie zu sexuellen Handlungen, auch zu Geschlechtsverkehr. Mit den meisten tauschte er Nacktbilder und Masturbationsvideos aus.

Im Gerichtssaal deutete der Kriminalbeamte außerdem an, warum so viele Mädchen wohl auf den 37-Jährigen eingegangen waren: Einerseits waren viele Opfer zum Zeitpunkt der Taten psychisch angeschlagen oder stammten aus schwierigen Familienverhältnissen und suchten nach Aufmerksamkeit. Andererseits verstand sich der Angeklagte offenbar sehr gut darauf, die Mädchen zu manipulieren und ihre Unerfahrenheit auszunutzen. (GEA)

Im Gerichtssaal

Gericht: Dirk Hornikel (Vorsitzender Richter), Kim Posselt, Stefan Pfaff. Schöffen: Melanie Böhm, Michael Maurer. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher, Mona Medic. Verteidigung: Sebastian Gauss, Önsel Ipek. Nebenklage: Sandra Ebert, Michael Krausche. Gutachter: Stephan Bork.