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Dieser Reutlinger hat das KZ als kleines Kind überlebt

Der Reutlinger Pavel Hoffmann gehört zu den letzten Zeitzeugen. Der 7. Oktober 2023 war für ihn ein Schock

Pavel Hoffmann hält Vorträge unter anderem an Schulen.
Pavel Hoffmann hält Vorträge unter anderem an Schulen. Foto: GEA allgemein Gea
Pavel Hoffmann hält Vorträge unter anderem an Schulen.
Foto: GEA allgemein Gea

REUTLINGEN. »Es reicht nicht, an das Geschehene zu gedenken.« Wichtiger sei es, entschlossen gegen jede Form des Antisemitismus vorzugehen. Seit 20 Jahren erzählt der 86-jährige Reutlinger Holocaust-Überlebende Pavel Hoffmann Schülern und anderen Interessierten seine Lebensgeschichte. Er ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen der Judenvernichtung im Dritten Reich. Seine Rettung nennt er ein Wunder. Fast die ganze Familie wurde in Auschwitz von den Nazis ermordet. Er selbst kam als Vierjähriger mit seiner Mutter ins KZ Theresienstadt. Sie starb dort. Seit 1971 lebt er mit seiner Familie in Reutlingen. Hoffmann war Hochschuldozent sowie Marketing- und Entwicklungsleiter. 2019 erhielt er den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg.

»Erst mit dem Renteneintritt begann ich mich mit meinem Schicksal zu beschäftigen und erst die Recherche des Schicksals der Familie meines Vaters hat mich dazu gebracht, öffentlich aufzutreten.« Lange hatte er sich nicht um seine Vergangenheit gekümmert, Familie und der Beruf waren wichtiger.

Doch es gab so viele unbeantwortete Fragen. Er war damals so klein, dass »ich fast keine Erinnerungen an die Zeit im KZ habe«. Als Mitglied des vermutlich weltweit größten Vereines der Holocaustüberlebenden, der Theresienstadt-Initiative, »habe ich seit 1998 sehr viel über mich persönlich und das Leben in Theresienstadt erfahren«.

Die Familientragödie

Begonnen hatte die Tragödie der Familie Hoffmann mit dem Münchner Abkommen von 1938 und der anschließenden Besetzung des tschechoslowakischen Sudetenlandes. Von da an galten auch dort die Nürnberger Gesetze des Deutschen Reiches. Sein 76-jähriger Großvater hatte als Arzt sein ganzes Leben hindurch vor allem deutsche Einwohner behandelt und geheilt. Er floh zur Tochter in die noch freie Rest-Tschechoslowakei. Aber nur wenige Monate später besetzte die Wehrmacht die ganze Tschechoslowakei.

Pavel Hoffmann nach der Ankunft in St. Gallen mit einer Schiefertafel um den Hals. Der Schweizer Arzt, der ihn untersucht, notie
Pavel Hoffmann nach der Ankunft in St. Gallen mit einer Schiefertafel um den Hals. Der Schweizer Arzt, der ihn untersucht, notiert: »Spricht seit drei Tagen kein Wort.« FOTOS: PRIVAT
Pavel Hoffmann nach der Ankunft in St. Gallen mit einer Schiefertafel um den Hals. Der Schweizer Arzt, der ihn untersucht, notiert: »Spricht seit drei Tagen kein Wort.« FOTOS: PRIVAT

Fünf Tage nach dieser Besetzung wurde Pavel Hoffmann in Prag geboren. Auch seine Eltern waren Ärzte, der Vater Zahnarzt, die Mutter Kinderärztin. Unter schwierigen Bedingungen lebten sie dort bis 1942. Als jedoch der stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich bei einem Attentat in Prag schwer verletzt wurde und dann starb, gab es Vergeltungsmaßnahmen. Drei Wochen später wurde Pavels Vater zusammen mit 1.200 anderen Repräsentanten der tschechischen und jüdischen Wissenschaft und Kultur verschleppt, im Stadion erschossen und die Leichen verbrannt.

Nach der Wende 1989/90 hat er bei der Durchsicht der Archive festgestellt, dass sein Großvater als Stadtarzt in der sudetendeutschen Stadt Niemes (heute Mimo) gewohnt hatte. »Ich habe mein Haus, in dem von 1943 bis 1945 die Gestapo und dann 50 Jahre die tschechische Polizei angesiedelt war, zurückgefordert.« Obwohl die damaligen Restitutionsgesetze respektive Benesch-Dekrete dagegen waren, bekam er beziehungsweise sein Großvater nach zehn Jahren Prozess vor dem Verfassungsgericht der Tschechischen Republik das sudetendeutsche Haus zurück, sagt er gegenüber dem GEA.

Mit vier Jahren alleine im KZ

Es dauerte nicht lange, dann deportierten die Nazis nach dem Tod des Vaters die Großeltern nach Auschwitz, wo sie sofort in den Gaskammern umgebracht wurden. Seine Mutter konnte sich und Pavel mit Hilfe nichtjüdischer Freunde zunächst der Deportation entziehen, doch 1943 brachte man sie und den vierjährigen Pavel mit dem letzten Transport nach Theresienstadt. Kurz darauf starb seine 34-jährige Mutter an den katastrophalen Bedingungen in dem Konzentrationslager. Pavel Hoffmann war nun als letzter Überlebender der Familie Hoffmann ein Vollwaise.

Eine Todesliste von 1941 mit mehr als 150.000 Namen, auf der Pavel Hoffmann schon im Alter von nur zwei Jahren verzeichnet ist.
Eine Todesliste von 1941 mit mehr als 150.000 Namen, auf der Pavel Hoffmann schon im Alter von nur zwei Jahren verzeichnet ist. Foto: GEA allgemein Gea
Eine Todesliste von 1941 mit mehr als 150.000 Namen, auf der Pavel Hoffmann schon im Alter von nur zwei Jahren verzeichnet ist.
Foto: GEA allgemein Gea

Seine Mutter stammte aus dem heute in der Ukraine liegenden Ushgorod (damals Tschechoslowakei und im Krieg zu Ungarn gehörend). Diese Familie wurde »mit vier Generationen 1944 in Auschwitz bis auf meinen Onkel vollständig vernichtet«.

Pavel war noch so klein. Es sind ein paar sehr eindrückliche Ereignisse, an die er sich erinnert. So ist er einmal zusammen mit vielen Leuten sehr lange draußen im Regen gestanden. Er hatte Angst gehabt. Er hat alles nachrecherchiert und weiß inzwischen: »Weil zwei Häftlinge geflohen waren, mussten damals alle 50.000 KZ-Insassen 24 Stunden strafstehen, und einige starben dabei.«

Das Wunder des Entkommens

Eindrücklich war die Erinnerung daran, dass viele Kinder in seinem Trakt Plüschtiere erhalten hatten, er aber nicht. Auch er hätte gerne eines bekommen. Am nächsten Morgen allerdings waren die Kinder mit den Kuscheltieren nicht mehr da. »Sie kamen höchstwahrscheinlich in ein Vernichtungslager.«

Dann ist da die Erinnerung an eine große Gruppe neuer Kinder im Lager, die alle sehr schmutzig gewesen waren. Heute ist ihm bekannt, dass an diesem 24. August 1943 genau 1.264 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren aus dem Ghetto Bialystok in Theresienstadt eingetroffen waren. Sie kamen nach Auschwitz und wurden dort am 7. Oktober 1943 vergast. Das sei auf direkten Wunsch von Amin el Husseini an seinen Freund Heinrich Himmler geschehen, sagt Hoffmann. Der Großmufti von Jerusalem, paktierte mit dem NS-Regime. »Diesen Jerusalemer Mufti nennt man heute Mr. Palästina und verehrt ihn in den arabischen Staaten wie einen Helden.«

»Wer mein Schutzengel war, der mich so lange davor bewahrte, weiß ich nicht«, sagt Hoffmann. »Die Häftlingsselbstverwaltung versuchte, besonders gut für die Kinder zu sorgen.« Ähnliches ist auch aus den KZ Buchenwald bekannt. »In Theresienstadt haben sich alle um die Kinder gekümmert und dafür sogar selbst auf Essen verzichtet. Ich weiß nicht, wie viele gestorben sind, damit ich leben konnte«, sagt Hoffmann traurig. Wie viel Glück er hatte, sagen zwei Zahlen: Vor dem Krieg gab es in Prag 15.000 jüdische Kinder. Zurück kamen 28.

Am 3. Februar 1945 stand auf einem Aushang im Lager, dass ein Transport Theresienstadt Richtung Schweiz verlassen werde, schildert er. Am 5. Februar 1945 sollte die Abfahrt sein, am Folgetag die Ankunft in Konstanz, dann nach St. Gallen. Im Lager sorgte das alles für Unruhe. War es nur eine Falle? Viele weigerten sich mitzufahren, weil sie Angst hatten, in den Gaskammern in Auschwitz zu landen. Doch am 5. Februar 1945 begleiteten plötzlich sehr freundliche SS-Schergen die 1.200 Juden auf ihrer Reise durch das zerstörte Deutschland bis an den Bodensee. Irgendwer hatte den kleinen Pavel auf diese Liste gesetzt. Viel später erfuhr Hoffmann, dass ein jüdisches Fabrikantenehepaar aus St. Gallen den ehemaligen Schweizer Bundesrat Jean-Marie Musy, der SS-Reichsführer Himmler offenbar kannte, für Geld dazu bewegen konnte, mit Himmler die Ausreise von Juden gegen Bezahlung auszuhandeln. Dafür sollten wöchentlich 1.200 KZ-Häftlinge ausreisen dürfen. Hitler erfuhr davon und stoppte das Unterfangen wütend. So gab es letztlich nur diesen einen Transport in die Freiheit.

Seit 1971 in Reutlingen

Die Flüchtlinge wurden in St. Gallen verteilt. Ein »Ehepaar Fischer, das sich wahrscheinlich schon in Theresienstadt um mich gekümmert hat und mich adoptieren wollte, nahm mich nach Kriegsende wieder mit in die Tschechoslowakei«, erzählt Hoffmann. Doch das Rote Kreuz hatte inzwischen herausgefunden, dass ein Onkel und eine Tante überlebten.

Der Onkel holte Pavel in Prag zu sich. »Dieser hatte seinen zweijährigen Sohn in Auschwitz verloren und war traumatisiert.« Sein Onkel erzog ihn christlich. Bis zum Alter von neun Jahren wusste er nicht einmal, dass er Jude war. Der Onkel wanderte schließlich in die USA aus und übergab Pavel an die Tante.

Bei ihr wuchs er auf, machte mit 17 Jahren sein Abitur, studierte in Prag, wurde mit 21 Ingenieur für Nachrichtentechnik und heiratete mit 22. Im Folgejahr kam die erste Tochter zur Welt. Während der kurzen Phase des politischen Prager Frühlings in der kommunistischen Tschechoslowakei unter Alexander Dubcek konnte er ein Praktikum in Deutschland machen. In Darmstadt wurde ihm eine Stelle angeboten. Als der Prager Frühling von Sowjettruppen niedergeschlagen wurde, ging er mit der Familie zunächst nach Darmstadt und 1971 aus beruflichen Gründen nach Reutlingen. Seitdem leben sie hier. Sie haben zwei Töchter, Enkel und Urenkel.

Hoffmann erzählt bei Vorträgen und Schulbesuchen seine Lebensgeschichte, um die Erinnerung an seine Familie hochzuhalten und gleichzeitig, um zu warnen und dem wachsenden Antisemitismus und Rassismus entgegenzutreten. Auch er selbst hat unangenehme Erfahrungen gemacht: »Man erkennt mich nicht als Juden, ich trage keine Kippa. Aber als ich in Tübingen auf dem Holzmarkt einen Vortrag hielt, sagte ein arabischstämmiger junger Mann an mich gewandt: Alle Juden werden begraben. Du auch.«

Antisemitismus scheine zur europäischen DNA zu gehören. »Ein wehrhafter Jude ist für viele nach 2.000 Jahren in der Opferrolle unerträglich«, stellt er fest.

Der 7. Oktober 2023 habe ihn richtig geschockt. Für ihn war das ein erneuter Holocaust. Er war davon überzeugt, dass die Juden in Israel in einem Staat leben, der ihnen Sicherheit bietet. Er habe sich getäuscht. »Ich bin an Schulen gegangen und habe meine Geschichte erzählt und meinte, das trage zur Aufklärung bei.« Spätestens seit dem 7. Oktober ist er sich da unsicher. (GEA)