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Die Johannespassion in Reutlingen: Betörend und verstörend

Johann Sebastian Bachs Vertonung des Leidens und Sterbens Jesu gehört zu den ganz großen Werken der Kirchenmusik. Gleichzeitig steht es wegen antisemitischer Textpassagen in der Kritik. Wie Reutlinger Musikerinnen und Musiker damit umgehen.

Chöre der Marienkirchengemeinde bereitet sich derzeit intensiv auf die Aufführung der Johannespassion vor.
Chöre der Marienkirchengemeinde bereitet sich derzeit intensiv auf die Aufführung der Johannespassion vor. Foto: Privat
Chöre der Marienkirchengemeinde bereitet sich derzeit intensiv auf die Aufführung der Johannespassion vor.
Foto: Privat

REUTLINGEN.. War Johann Sebastian Bach nicht nur ein begnadeter Komponist, sondern auch Antisemit? Findet diese rassistische Haltung ihren Ausdruck in der Johannespassion? Ist es heutzutage - nach Hitlers Nazi-Terror und neonazistischen Aufmärschen im Jetzt und Hier - überhaupt statthaft, das Werk zu Gehör zu bringen? Und wenn ja: Wie? Vier Fragen, die kurz vor den Ostern nachgerade berechenbar die Gemüter erhitzen und an denen sich binnen der zurückliegenden zwei, drei Jahrzehnte bereits viele kritische Geister und kluge Köpfe abgearbeitet haben, um - man ahnt es - zu unterschiedlichen Antworten zu gelangen. Und: zu unterschiedlichen Aufführungs-Praktiken.

Mal streichen Konzert-Verantwortliche heikle Passagen ganz aus dem Libretto und ersetzen diese - zum Beispiel - durch Texte jüdischer Literaten, mal halten sie mit Berufung aufs Neue Testament und unter Verzicht auf jedwede Kommentierung buchstabengetreu am Original fest und wieder ein andermal geben sie der kontroversen Diskussion um Bach und die von ihm vertonte Leidensgeschichte Jesu in den Programmheften Raum.

Ohne Abstriche und Verbal-Kosmetik

So auch die Reutlinger Leonhards- und Betzinger Mauritiuskantorei nebst Jungem Ensemble und Projektorchester, die an Palmsonntag, 13. April, 18 Uhr, die Johannespassion ohne Abstriche oder Verbalkosmetik in der Marienkirche erklingen lassen. Allerdings nicht, weil sie vor problematischen Textstellen Augen und Ohren verschließen würden, sondern weil sie unter der Leitung von Kantorin Michaela Frind das Werk im Bach'schen Sinne aufführen wollen. Was - wie viele Musikwissenschaftler betonen - nur dann funktionieren kann, wenn Text und Musik in ihrer Ursprünglichkeit miteinander korrespondieren dürfen und als Einheit, als Kunstwerk aus einem Guss verstanden und zur Aufführung gebracht werden.

Michaela Frind übernimmt die Leitung des Palmsonntagskonzerts.
Michaela Frind übernimmt die Leitung des Palmsonntagskonzerts. Foto: Privat
Michaela Frind übernimmt die Leitung des Palmsonntagskonzerts.
Foto: Privat

Statt manipulativer Eingriffe ins Libretto setzen Frind und der Vorsitzende des Kirchenmusik-Beirats sowie christliche Sprecher im Reutlinger Rat der Religionen, Frieder Leube, auf ein erläuterndes Handout. Darin gehen sie in gedruckter Form und mit ergänzend-informativem QR-Code der Frage nach, ob Bachs Johannespassion antijudaistisch ist. Zumal aggressive Chor-Passagen wie das von einer aufgebrachten jüdischen Menge inbrünstig skandierte »Weg, weg mit dem. Kreuzige ihn!« Wasser auf die Mühlen derer sein könnte, die »den« Juden die Schuld an der Ermordung Jesu geben.

Wiewohl dabei und dabei meist völlig außer Acht gelassen wird, dass die Kreuzigung des Erlösers in eine Zeit fällt, da das Römische Reich unterdrückend-einschüchternde Besatzungsmacht in Judäa war und Jesus in vielerlei Hinsicht ein »Revoluzzer« - einer, der aneckte, provozierte und von sich Größenwahnsinniges behauptete: nämlich niemand Geringerer als der Sohn Gottes zu sein.

Mal betörend, mal verstörend

Wow! Das birgt in vielerlei Hin- und Herrichtung Sprengstoff. Das kann sowohl im Positiven als auch im Negativen entflammend wirken. Das rührt auf, aber auch an. Was, wie Kantorin Frind sinngemäß sagt, gleichermaßen für die Musik Johann Sebastian Bachs gilt, die einerseits der kochenden Volksseele melodiösen Ausdruck verleiht, andererseits aber auch Hoffnung transportiert und den Himmel der Erde unweigerlich ein Stückchen näher bringt: weil sie ganz große Emotionen weckt und die biblisch verbriefte Dramaturgie von Jesu Verurteilung und Hinrichtung fast schon physisch fühlbar werden lässt: mal betörend, mal verstörend.

Der christliche Sprecher im Reutlinger Rat der Religionen, Frieder Leube, singt bei der Johannespassion mit und hat sich intensi
Der christliche Sprecher im Reutlinger Rat der Religionen, Frieder Leube, singt bei der Johannespassion mit und hat sich intensiv mit den sie begleitenden Antisemitismus-Vorwürfen auseinandergesetzt. Foto: Privat
Der christliche Sprecher im Reutlinger Rat der Religionen, Frieder Leube, singt bei der Johannespassion mit und hat sich intensiv mit den sie begleitenden Antisemitismus-Vorwürfen auseinandergesetzt.
Foto: Privat

Gänsehautmomente löst sie übrigens sogar bei Michaela Frind und Frieder Leube aus. Beide - sie als Regisseurin mit Dirigierstab, er als Mitsänger der Johannespassion - räumen ein, stellenweise »sehr angefasst« zu sein. Wobei Leube insbesondere » beim Schlusschor aufpassen muss« und seine Gefühle in den Griff zu kriegen. Derweil Frind der »Eingangschor« ganz beonders berührt, weil, dessen »Kontemplativität« für die professionelle Kirchenmusikerin »wie ein Suchen der Seele nach Gewissheit« ist.

Konzertkarten

Der Ticketvorverkauf für die Johannespassion am Sonntag, 13. April, 18 Uhr, in der Reutlinger Marienkirche läuft. Karten zu 25 und 18 Euro gibt es online und telefonisch bei der Marienkirchengemeinde sowie an der Abendkasse. (ekü)

www.nmk-reutlingen.de/tickets
07121 312444

Während andere Akteure - sie repräsentieren jenen Mob, der Jesu Todesstrafe fordert - anfangs erhebliche Schwierigkeiten damit hatten, dieses grausame »Weg, weg mit dem. Kreuzige ihn!« über die Lippen zu bringen. Besagte Sängerinnen und Sänger, erzählen Frind und Leube, hatten zunächst ihre liebe Mühe, in die Welt des von Bach »inszenierten Musiktheaters« (Leube) einzutauchen und dabei einen Part zu übernehmen, der ihren Überzeugungen und Werten im wirklichen Leben diametral entgegensteht.

Gelegenheit zum Austausch

Dass sie's trotzdem tun, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es in den Proben-Pausen stets Gelegenheit zum Austausch gibt - über persönliche Befindlichkeiten, aber auch über die Frage nach dem Bach’schen Antisemitismus, die darob Einzug ins Programmheft gehalten hat. Ist die Johannespassion antijüdisch?

Durchaus, weil Bach nun mal Kind einer Zeit war, in der christlicher Antijudaismus von Christen sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen wurde. Wenngleich Bach an keiner Stelle des Werkes den Kommentator gibt und der Zuhörerschaft seine persönliche Meinung unterjubelt. Er lässt die Bibel sprechen - und Christus, der, wie in einem der Choräle zu hören, glasklar zu verstehen gibt, dass er es ist, dass es seine Sünden sind, die ihn durchs tiefste Dunkel zum hellsten Licht führen werden: zum Besten aller - Juden, Christen und Muslime. Punkt.

»Super Solisten« verpflichtet

Punkt? Nicht für die Musikerinnen und Musiker der Johannespassion, die dieser Tage, kurz vor der Aufführung, ordentlich ranklotzen. Und zwar generationsübergreifend. Von der 80- bis zur 12-Jährigen sind nämlich alle Altersgruppen in den Reihen des Chores vertreten. Was für Kantorin Michaela Frind den speziellen Reiz dieses Konzertes ausmacht. Außerdem freut sie sich darüber, dass sie mit Katharina Großmann (Sopran), Viola Kremzow (Alt), Julian Habermann (Evangelist/Arien), Wojciech Latocha (Christus, Arien) sowie Hannes Nedele (Pilatus) »super Solisten« verpflichten konnte.

Letztlich, verrät sie, erfüllt sich Frind mit der Inszenierung der Johannespassion einen lange gehegten Wunsch. Wirklichkeit hätte er bereits vor vier Jahren werden sollen. Doch dann kam Corona und machte dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. (GEA)