REUTLINGEN-BETZINGEN. Nirgendwo sonst in Reutlingen sind Kartoffeln, Kirschen und Co. regionaler, frischer und nachhaltiger, ist das Angebot an solchen Produkten an einem Fleck größer als auf dem Wochenmarkt im Herz der Stadt. Seit dem Mittelalter ist er eine feste Größe im Stadtgeschehen – als Anlaufstelle für Besorgungen, Nachrichtenbörse, Wiege und Nährboden für Tratsch und Klatsch. Selbst in Zeiten des florierenden Onlinehandels und während der Coronapandemie hat sich der Wochenmarkt gut gehalten, ja sogar seine ganze Stärke entfaltet – und nebenbei Leben und potenzielle Käufer in die Innenstadt gelockt.
Und jetzt also Energiekrise und Inflation. Drohen nun auch in dieser Branche Umsatzeinbußen und Pleiten? Bleibt der Reutlinger Wochenmarkt ein Selbstläufer oder muss er wie in anderen Städten und Regionen auf das sich verändernde Konsumverhalten reagieren, mit pfiffigen Ideen, Kampagnen, Werbung und Aktionen?

Der Informationsbedarf zu diesen Themen scheint jedenfalls groß zu sein in der Branche. Etwa 80 Menschen, die am Marktgeschehen in Baden-Württemberg teilhaben, trafen sich in der Betzinger Kemmlerhalle zu einer Tagung unter dem Titel »Kulturgut Wochenmarkt«. Die Ini-tiative der Marketer Jochen Braasch (Gustoregio) und Elmar Fetscher (Genuss im Süden) will nach eigenen Worten »Wochenmärkte, regionale Erzeuger und Marktbeschicker ins rechte Licht setzen und diesen wichtigen Kulturträgern mehr Raum und Wertschätzung in der öffentlichen Wahrnehmung verschaffen«.
Marktsprecher, Marktbeschicker und Marketingfachleute erklärten ihre Erfahrungen und Strategien. Sie betonten den hohen emotionalen Wert, den die Märkte für die Bürger hätten. Und dass die Wochenmärkte große touristische Attraktionen und starke Innenstadtmotoren seien. So wie Vincent Schoch von der IHK Reutlingen: »Wochenmärkte sind Impulsgeber für die Innenstädte.« Sie seien Frequenzbringer, sinnliche Orte des Genusses, eine »Visitenkarte für regionale Produkte« und böten Raum für Veranstaltungen und Events. Mal abgesehen von der derzeitigen Krise, in der die Konsumlaune der Verbraucher vollends in den Keller gerutscht ist, nimmt die Bedeutung des Einzelhandels ohnehin ab. Sollen die Citys nicht vollends verwaisen, müssten sie »Besuchsgründe liefern«.
Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck steuerte Zahlen und Fakten vom Reutlinger Wochenmarkt bei, die aus einer internen Studie stammen. Demnach verweilt der Wochenmarktbesucher im Schnitt eine Dreiviertelstunde auf dem Marktplatz, jede(r) Dritte bleibt sogar eine ganze Stunde, um einzukaufen und Leute zu treffen. Die Qualität des Reutlinger Markts sei von den Besuchern mit der Note 1,9 bewertet worden. Kecks Fazit: »Der Wochenmarkt trägt sehr zur Attraktivität der Stadt bei und ist wichtiger Imagefaktor. Er verleiht unserer Stadt eine gewisse DNA.«
»Wochenmärkte sind Impulsgeber für die Innenstädte«
Laut Jürgen Mettendorfer, Marketingleiter der Stadt für die Märkte, stammt die Studie, aus der Keck zitierte, aus dem Jahr 2006, sie sei aber immer noch aktuell. Man sei offen für neue Ideen, aber akuten Handlungsbedarf sieht er nicht, um den Markt werbemäßig zu unterstützen. Dass er funktioniert, sieht man auch daran, dass die Nachfrage nach Ständen noch immer größer ist als das Platzangebot. Die Händler selbst haben ohnehin ihre eigenen Strategien, um die Kundschaft bei der Stange zu halten (siehe Artikel unten). Das große Schreckgespenst für sie ist die geplante Marktplatzumgestaltung, für die allerdings im Haushalt 2023 kein Geld lockergemacht werden kann. (GEA)