REUTLINGEN. Eine 275 Meter lange Straße mit 578 Stufen: In Kassel entstand 1953 die erste Fußgängerzone Deutschlands. Die heute unter Denkmalschutz stehende Treppenstraße wurde am 9. November 1953 eingeweiht, inmitten der durch den Krieg schlimm zerbombten Altstadt.
Das Beispiel machte Schule. Fußgängerzonen galten schnell als schick. 1971 gab es in 134 Stadtzentren der Bundesrepublik welche. 1976 waren es schon 220. Ihr klares Ziel: die Förderung der Konsumlust. Die Flaniermeilen wurden zu einem Symbol prosperierenden Wirtschaftslebens. Die zerstörten deutschen Städte boten Raum für Planerträume.
Die Anfänge der Reutlinger Fußgängerzone reichen ins Jahr 1968 zurück. Stadtarchivar Roland Deigendesch hat für den GEA wichtige Eckpunkte zusammengestellt:
"Am 16. September 1968 wurde die Wilhelmstraße erstmals vom Karlsplatz bis zur Oberamteistraße für den Kraftfahrverkehr gesperrt, die Straßenbahn verkehrte bis 1974 weiterhin. Erst nach deren Aus im Oktober 1974 begann die bauliche Umgestaltung der nun ausschließlichen Fußgängerzone, die sich in mehreren Phasen bis nach 1980 erstreckte.
Start vor 50 Jahren in der Wilhelmstraße
1974 begann die Maßnahme in der Wilhelmstraße, später kamen weitere Bereiche (Katharinenstraße, Krämerstraße) hinzu.
1978 etwa erfolgte die Umgestaltung der Oberen Wilhelmstraße. Ein Ideenwettbewerb zur Ausgestaltung bezog die Bevölkerung mit ein. Auch das Büro des späteren Baubürgermeisters Winfried Engels beteiligte sich. Das 1977 erreichte Gestaltungskonzept des Hochbauamts sah dabei nicht nur eine einheitliche Ausgestaltung des Bodenbelags vor, auch Begrünung, neue Beleuchtungselemente (eine Eigenentwicklung der Stadtwerke) und Sitzgelegenheiten sollten die Aufenthaltsqualität erhöhen.
»Symbolischer Abschluss 1983«
Der Straßenbelag Pflaster sollte an die reichsstädtische Zeit erinnern, allerdings musste es alsbald aufgrund des Gewichts von Fahrzeugen des Lieferverkehrs nachgebessert werden. 1979 folgte die Katharinenstraße und aus diesem Jahr stammt auch eine in den Boden bei der Oberamteistraße eingelassene Messingtafel, die an die Gesamtmaßnahme erinnert.
Neugestaltung des Marktplatzes
1981 bis 1982 schließlich wurde auch der Marktplatz neu gestaltet. Auf diese Zeit geht der heute noch durch Pflastersteine ablesbare Grundriss des im Stadtbrand zerstörten Renaissance-Rathauses zurück. In diesem Jahr, 1982, kann die Schaffung der Fußgängerzone insgesamt zumindest vorläufig als abgeschlossen gelten. Bis dahin wurden 5,7 Millionen D-Mark aufgewendet.
Ein in gewisser Weise symbolischer Abschluss wurde mit dem "Zunftbrunnen" des Aachener Bildhauers Bonifatius Stirnberg in der Oberamteistraße geschaffen, der zum Stadtfest im Juli 1983 unter sehr großer öffentlicher Anteilnahme eingeweiht und durch viele Spenden ermöglicht wurde."
Soweit Deigendeschs Ausführungen. Die Reaktionen der Händler waren in den frühen Jahren sehr positiv, das ist alten Zeitungsartikel zu entnehmen. Die Stadtverwaltung lässt im Herbst 1974 presseöffentlich wissen: »Die Erfahrungen im bereits gesperrten Teil der Wilhelmstraße zeigten recht klar, dass die Fußgängerzone für die Passanten, Geschäfte und Anwohner nur dann attraktiv sei und zur Belebung der Innenstadt beitrage, wenn der Verkehr gering sei.«
Sorge des Einzelhandels
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stand dann, wenn es um Autoverkehrsreduzierung in der Altstadt ging, meist die Sorge des Einzelhandels im Fokus der Debatte. Ein paar Poller hier, eine Einbahnstraßenregelung dort: Die Verwaltung hielt sich auch wegen des Gegenwinds der konservative Ratsmehrheit mit Restriktionen für Autofahrer zurück. Allzu zaghafte Ausweitungen autofreier Bereiche etwa am Nikolaiplatz oder in der Metzgerstraße finden dann oft schlechte Akzeptanz.
Die Ausweisung der Lindenstraße war die letzte nennenswerte Erweiterung der Reutlinger Fußgängerzone. (igl)