REUTLINGEN. Seit 25 Jahren treibt eine ganz besondere erneuerbare Energie das Großprojekt Stadtbahn in der Region Neckar-Alb voran: der Förderverein »Pro Regio Stadtbahn«. Aber: Ist dieses Jubiläum ein Grund zum Feiern? Oder müssen die Vereinsmitglieder die Schampuskorken knallen lassen, um sich den Kummer schönzutrinken, dass die Bahn immer noch nicht auf die Alb fährt?
Jochen Gewecke, einer der Geschäftsführenden Vorstände, weist auf eine wichtige Funktion des Vereins hin: »Wir sind die, die sagen, es geht nicht schnell genug.« Man werde auch nicht obsolet, sobald die Bahn rollt. »Man wird uns weiter brauchen, ehrenamtlich überparteilich können wir wider den Stachel löcken.« Mehr als 100 Mitglieder zählt der Verein. Im Beirat sind über 50 Entscheidungsträgerinnen - und Träger aus Politik und Rathäusern von CDU-Bundestagsmitglied Michael Donth bis zum Tübinger OB Boris Palmer. »Als Unparteiische können wir leichter Kontakte knüpfen«, sagt Vorstandsmitglied Peter Elwert. Und eben dieses Netzwerken gehört seit jeher zur DNA des Vereins.
»Anfangs waren wir Aliens, Utopisten«, sagt Jochen Gewecke, der 1999 bei der Vereinsgründung in Tübingen dabei war. Der Verein sei zunächst sehr »tübingenlastig« gewesen. Dass 2021 gerade dort der Bürgerwille erst mal die weiteren Planungen einer Innenstadtstrecke blockiert, muss besonders schmerzen.
»Anfangs waren wir Aliens, Utopisten«
Doch der Tübingen-Schock hat den Schienenfans nicht den Schneid abgekauft. »Der Tanker läuft. Wir haben das Projekt auf einem guten Gleis «, sagt Gewecke. Wichtige Stationen dieser Reise: die erste Machbarkeitsstudie Anfang 2003 und die erste standardisierte Bewertung vor zehn Jahren. Die Gründung des Zweckverbandes Regional-Stadtbahn Neckar-Alb (2019/20) gehe letztlich auf eine Idee des Vereins zurück. Darin sind Kräfte und Ziele der Projektpartner – die Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb, die Städte Reutlingen und Tübingen und der Regionalverband - konzentriert. Mit der Neustrukturierung des Zweckverbands im vergangenen Jahr wurde eine weitere zentrale Weiche gestellt. Er bündele nun »Expertise und Mitarbeiterpotenzial«, sagt Peter Elwert.
Zielführend aus Sicht von Vorstandsmitglied Andreas Linsmeier auch: die Neuaufstellung der Infrastrukturgesellschaft mit der ENAG (Erms-Neckar-Bahn AG). Darin hat nun der Zweckverband Mehrheit und Sagen. Die ENAG allein sei für das Großprojekt »zu schwachbrüstig«. Auch, weil auf der anderen Seite des Tischs oft ein mächtiges Unternehmen steht: die Deutsche Bahn mit ihren auch aufgrund der vielen Einzelunternehmen oft »schwierigen Kommunikationswegen«.
»Sonntagsreden von Baubürgermeisterin Ulrike Hotz und Oberbürgermeisterin Barbara Bosch im Partyzelt am Westbahnhof«
Dicke Bretter galt es auch in Reutlingen zu bohren, wo lange Jahre die Reutlinger Stadtbahninitiative mitbohrte, mit der man später fusionierte. Jochen Gewecke erinnert sich an die "Sonntagsreden von Baubürgermeisterin Ulrike Hotz und ihrer Chefin Barbara Bosch im Partyzelt am Westbahnhof beim Event zu 150 Jahre Eisenbahn in Reutlingen. Legendär eine Pressekonferenz, mit der der Verein sich und das Projekt mal wieder ins Rampenlicht rückte und die in einen GEA-Artikel mit der markanten Überschrift "Der Bahnhof ist im Weg " mündete. "Danach kamen mit der Baubürgermeisterin und dem Abteilungsleiter der Stadtplanung gute Kontakte zustande", erzählt Gewecke grinsend. Und auch die konservativen Parteien im Gemeinderat hätten sich mit der Zeit "lernfähig gezeigt", fügt Elwert hinzu.
Neben der Talgangbahn kapriziert sich der Förderverein laut Andreas Linsmeier nun auf die Achalmstadt. »Wenn Reutlingen nicht funktioniert, dann läuft nichts gen Echaztal und Alb.« Derzeit spiele die Musik in Reutlingen aber mit »Misstönen«: »Die CDU will aus der Stadtbahn eine Regional-Bahn machen, die auf der Alten Honauer Bahntrasse an Reutlingen vorbeifährt.«
In Sachen Trassenführung durch die Reutlinger Innenstadt möchten die Vorstände - abseits der Honauer Trasse - nicht vorgreifen. »In lokale Fragen mischen wir uns nicht ein«, sagt Gewecke. Man sei gespannt auf die Ergebnisse der Vorplanung, die 2025 Jahr präsentiert werden sollen. »Vorbildlich« läuft laut Andreas Linsmeier in Reutlingen der Prozess mit den Trassenspaziergängen: »Die Bürger müssen abgeholt werden.«
»In lokale Fragen mischen wir uns nicht ein«
Wann fährt die Stadtbahn auf die Alb? Ab 2035, so die Prognose der (An)-Bahner - spätestens zur Bundesgartenschau. Die beiden neuen Haltepunkte in Reutlingen (Bösmannsäcker und Storlach) sieht man bis spätestens 2026 an den Start gehen. Insgesamt problematisch bei der Realisierung: Es fehlt an Ingenieuren. Das Mammutprojekt Stuttgart 21 sauge alle Kapazitäten ab.
Die Kalamitäten um den Albaufstieg für den Autoverkehr - mit der nun favorisierten Trasse werden die beiden Großprojekte voneinander abgekoppelt - sieht Gewecke eher positiv. »Vielleicht war das sogar das Beste, was uns passieren konnte.« Vorher sei die Stadtbahn »in Sipppenhaft« mit einer Straße gewesen, die vielleicht erst am St. Nimmerleinstag gebaut werde. »Jetzt können wir selbständig weiterarbeiten in unserer Geschwindigkeit.«
Angesichts von immer schnellerem Wandel haben die Schienenfreunde doch keine Angst, dass irgendwann mal die Zeit übers Projekt gegangen ist, bevor es zur Realisierung kommt. Im Gegenteil. Die Kombination aus Fahrrad und Schiene sieht Peter Elwert als zukunftsträchtig. Mit der Perspektive, dass einst autonome Fahrzeuge Passagiere, die nicht radeln können oder möchten, an die Haltepunkte bringen. Absehbar sei auch kein Zugfahrpersonal mehr nötig. Die Bahn brauche wenig Platz und erlaube flexible Reaktion auf hohe Auslastung: Bei Bedarf wird einfach ein Wagen angehängt. (GEA)