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Aktuell Stadtkreis-Debatte

Der Tag der Entscheidung

Weil »keine überwiegenden Gründe des öffentlichen Wohls« für eine Erklärung der Stadt Reutlingen zum Stadtkreis sprechen, hat der Landtag von Baden-Württemberg gestern Vormittag den vor dreieinhalb Jahren gestellten entsprechenden Antrag mehrheitlich abgelehnt. CDU, Grüne und FDP stimmten für den Kompromissvorschlag, nach dem Reutlingen mehr Kreis-Aufgaben übertragen werden sollen, die SPD-Fraktion votierte dagegen, die AfD enthielt sich

Im Plenum: Der Landtag diskutiert, wie es mit Stadt und Kreis Reutlingen weitergehen soll.
Im Plenum: Der Landtag diskutiert, wie es mit Stadt und Kreis Reutlingen weitergehen soll. Foto: Frank Pieth
Im Plenum: Der Landtag diskutiert, wie es mit Stadt und Kreis Reutlingen weitergehen soll.
Foto: Frank Pieth

STUTTGART/REUTLINGEN. Am Ende war der Stadtkreis-Antrag abgelehnt. Doch zuvor zeigte Hans-Ulrich (Uli) Sckerl, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Landtag, bei der Aussprache Verständnis für die Verärgerung der Stadt über das dreieinhalb Jahre dauernde Verfahren. Aber es sei ein »umfassender Abwägungsprozess zu bewältigen gewesen«, zumal es »keinen Vorläufer« gab: Reutlingens Antrag auf Stadtkreisgründung ist der erste seit Bestehen des Landes Baden-Württemberg.

Der Antrag genieße bei den Grünen viel Sympathie, sagte Sckerl: »Ein Stadtkreis Reutlingen ist für uns vorstellbar, auch wenn keine rechtliche Verpflichtung dazu besteht.« Seine Fraktion habe das Anliegen sehr ernst genommen. Die Frage des öffentlichen Wohls erfordere eine umfassende Güterabwägung: Das öffentliche Wohl sei weder allein aus der Sicht der Stadt bestimmbar, noch einseitig aus der Sicht des Landkreises. Vielmehr gelte es auch, die Zukunft des Landkreises und das »Gesamtgefüge des Gebietszuschnitts in Baden-Württemberg« zu beachten.

Sckerl machte kein Hehl daraus, dass es zwischen Grünen und CDU – die eine Stadtkreisgründung ablehnt – unterschiedliche Auffassungen gab: »Wir haben in der Koalition wahrhaft um Lösungen gerungen.« Den erarbeiteten Entschließungsantrag bezeichnete Hans-Ulrich Sckerl als einen »sehr attraktiven anderen Vorschlag unterhalb der Stadtkreisgründung«. Denn einig sei man sich darin gewesen, dass es sinnvolle Veränderungen im Verhältnis zwischen Stadt und Landkreis geben kann – »meine Fraktion sagt sogar: geben muss«.

Eine Großstadt habe andere Herausforderungen als ein ländlich geprägter Landkreis. Die Stadt brauche »Beinfreiheit für ihre Entwicklung«, der Landkreis »Sicherheit für seine eigene gesunde Zukunft«. Deshalb sollen Stadt und Landkreis die Aufgabenteilung von Grund auf prüfen und der Stadt weitere Zuständigkeiten übertragen werden, einschließlich der Verantwortung für die Finanzierung (mit der Aussicht auf höhere Zuweisungen). Damit sei es den Grünen ernst: »Der Entschließungsantrag ist kein Larifari, das Thema wird nicht ad acta gelegt.«

»Wir haben in der Koalition wahrhaft um Lösungen gerungen«

Kein Wink mit dem Zaunpfahl also, »sondern mit dem Laternenpfahl«, wie es Uli Sckerl und der Reutlinger Landtagsabgeordnete der Grünen, Thomas Poreski, vorab vor Journalisten formulierten. Weil eine Stadtkreisgründung zwar von der Gemeindeordnung als Möglichkeit eröffnet werde, Kriterien hierfür aber nicht klar geregelt seien, sieht Poreski in einer Klage der Stadt nichts Despektierliches, auch wenn ihm eine gütliche Einigung lieber wäre. In einer »rechtlich ungeklärten Situation« sei es logisch, dass es einer höchstrichterlichen Klärung bedürfe.

Auch Ulli Hockenberger, der kommunalpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, ging in seiner Rede auf die Frage des Gemeinwohls ein. Schon 2013 habe der frühere Innenminister Reinhold Gall (SPD) in einem Schreiben an Oberbürgermeisterin Barbara Bosch darauf hingewiesen, dass bei der Entscheidung »keineswegs allein die Situation der Stadt Reutlingen maßgeblich ist.«

Inzwischen lägen alle Informationen vor, die für eine fehlerfreie Abwägung erforderlich seien – und das sei nötig, weil die Stadt bereits erklärt habe, beim Verfassungsgerichtshof Klage zu erheben für den Fall, dass ihrem Antrag nicht entsprochen werde. Das sei bemerkenswert, weil sie einerseits erklärt habe, keinen Rechtsanspruch geltend zu machen, anderseits aber den Anspruch erhebe, dass der Landtag mit den vor ihr vorgetragenen Argumenten »nur zu einer richtigen Entscheidung kommen kann, nämlich der Erklärung zum Stadtkreis«. Diese »Stringenz der Argumentation« teile die CDU nicht.

Jetzt seien, so Hockenberger, Stadt und Landkreis gefordert, die CDU halte ergebnisorientierte Gespräche für dringend geboten. Und vielleicht bewahrheite sich dann auch, was Barbara Bosch laut einer GEA-Randnotiz mehrfach prophezeit habe: dass die Stadt »so oder so« gestärkt aus dem Prozess hervorgehen werde.

Gegen die Stadtkreisgründung gebe es stichhaltige Argumente, sagte Hans-Peter Stauch, AfD-Abgeordneter im Landkreis Hechingen-Münsingen. Diese Entscheidung solle aber nicht ohne ein Bürgervotum getroffen werden. Die AfD befürworte zwar grundsätzlich die vorgeschlagenen Gespräche zwischen Stadt und Landkreis, plädiere aber trotzdem für ein Referendum. Der Tag der Kommunalwahl im Mai 2019 biete sich an, um gleichzeitig die Bürger zum Stadtkreis zu befragen.

Ein flammendes Plädoyer für den Stadtkreis hielt Rainer Stickelberger für die SPD-Landtagsfraktion, die den »verschwurbelten Antrag der Koalitionsfraktionen« komplett ablehnte. Stickelberger geißelte das »unzumutbar lange Verfahren«, an dessen Ende nun die Beteiligten mit einem nichtssagenden Beschlussvorschlag in ein paar dürren Sätzen abgespeist werden. »Wenn Sie mit diesem Beschluss vor ein Gericht gezerrt werden, dann werden Sie auf die Nase fallen«, prophezeite er den Grünen und der CDU. Sie gäben den Schwarzen Peter zurück an die Stadt und den Landkreis, die sich nun in moderierten Gesprächen selbst einigen sollen. Unter welcher Leitung? In welchem Zeitraum? Nicht mal eine genaue Beschreibung dieses Moderationsprozesses gebe es. »Lascher und nichtssagender geht es nicht.«

»Mit diesem Beschluss werden Sie vor Gericht auf die Nase fallen«

Dabei sei doch ausreichend belegt worden, dass die Verwaltungsstrukturen eines Landkreises für die Großstadt Reutlingen nicht mehr passen und dass der Landkreis auch ohne die Stadt leistungsfähig bleibe. Dass man Reutlingen die Erhebung zum Stadtkreis verwehre, verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Die SPD vermisse den Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung.

Stickelbergers beherzte Rede nahm Thomas Poreski (Grüne) als Steilvorlage. Die SPD hätte doch einen eigenen Gesetzesantrag stellen können, was sie nicht getan habe. Im Übrigen sei der Antrag auf Stadtkreisgründung zu Zeiten der früheren Regierungskoalition gestellt worden, »und der damalige SPD-Innenminister hat ihn zehn Monate liegen gelassen. Da kann ich nur sagen: Gut gebrüllt, Bettvorleger!«

Stadtkreis ja oder nein? Das sei »ganz, ganz schwer zu entscheiden«, meinte Dr. Ulrich Goll von der FDP. Der Antrag der Stadt Reutlingen sei gut begründet und schlüssig. Die entscheidende Frage sei jedoch: Was bringt es den Menschen? Hier sieht die FDP keine entscheidenden Vorteile gegenüber dem Status quo. Sie hat eher Sorge, dass die »Architektur des Restkreises« dann nicht mehr stimmen würde. Hätte man bei der letzten Gebietsreform vor Jahrzehnten Reutlingen als Stadtkreis vorgesehen, dann hätte man den Landkreis von vornherein anders zugeschnitten. Der Dialog sei jetzt das Gebot der Stunde: Kreis und Stadt sollten Perspektiven erarbeiten, wie die Aufgabenerfüllung verbessert werden kann.

Innenminister Thomas Strobl (CDU) erklärte, die Landesregierung sei nach umfassender Abwägung zur Ansicht gekommen, dass Gründe des öffentlichen Wohls eine Erhebung zum Stadtkreis nicht rechtfertigen. Die Situation der Stadt Reutlingen bedürfe nicht zwingend einer Änderung. »Das heißt nicht, dass man nicht vor Ort über Verbesserungen sprechen kann.« Er hoffe, dass die Stadt die Entscheidung des Landtags akzeptiert und der Blick nun nach vorn geht »in Richtung erfolgreiches Miteinander«. (GEA)