REUTLINGEN-ALTENBURG. Es war der 8. oder der 9. Mai 1945, als Hans Weimar in Hamburg-Harburg in Richtung Süden loslief. Voller Ungewissheit, ob seine Familie den großen Bombenangriff der Alliierten auf Pforzheim überlebt hatte. Voller Ungewissheit auch darüber, was von seiner Heimat überhaupt noch übrig geblieben war. Sein Kompaniechef hatte die Kompanie aufgelöst, als klar war, dass Nazi-Deutschland kapituliert hatte. »Er hat auf Wiedersehen gesagt, und dass wir gut heimkommen sollen«, erinnert sich der heute 98-jährige Weimar in seinem Wohnzimmer in Altenburg sitzend an diese ungewissen Tage. »Und davor hat er noch das Essen, das übrig war, auf uns alle aufgeteilt.« Und so lief der damals 18-jährige Soldat los, in Richtung Heimat. »Am Anfang waren wir eine große Gruppe. Alle von der Marine.« Jeden Tag rund 40 Kilometer, bei Wind und Wetter. »Aber das war aushaltbar, ich hatte ja ein Ziel.«
Die ersten acht Tage ernährten sich die Männer von dem, was noch in ihrem Brotbeutel war. Danach bekamen sie Essen von der Bevölkerung. Weimar erinnert sich an berührende Momente: »Ich hab' einige Male von den Menschen gehört: Wir geben euch gerne Essen. Wir haben auch einen Mann, einen Sohn, einen Bruder. Und wir hoffen, dass auch er unterwegs etwas zu essen bekommt.« Ungern hätten die Menschen die heimwärts marschierenden Soldaten in ihr Haus gelassen, »aber das hat mir nichts gemacht, wir haben dann eben in der Scheune geschlafen«. Oder im Straßengraben, »es war ja zum Glück ein warmer Mai«.
»Er hat auf Wiedersehen gesagt, und dass wir gut heimkommen sollen«
Einmal wurden die jungen Soldaten von britischen Alliierten erwischt. »Aber da konnten wir abhauen, wir waren schneller als die.« Dann wurde Weimar von den Amerikanern geschnappt. Er war nicht direkt als Soldat erkennbar, »wir hatten keine ganzen Uniformen mehr an, nur Hemd, Hose und Arbeitsstiefel«. Man brachte den damals 18-Jährigen in das Rathaus eines Dorfes. »Ich wollte dem Amerikaner unbedingt weismachen, dass ich kein Soldat bin, sondern Schüler. Dass ich bei der Kinderlandverschickung war.« Weimar führte zu diesem Zeitpunkt zwei Dokumente mir sich: seinen Wehrpass und sein Abgangszeugnis von der Oberschule. Den Wehrpass versteckte er geistesgegenwärtig in einem offenen Schrank im Rathaus, das Zeugnis präsentierte er dem amerikanischen Soldaten. »Dieser Offizier konnte gut Deutsch. Aber er konnte kein Sütterlin lesen. Mein Zeugnis war in Sütterlin geschrieben«, erzählt Weimar von diesem Moment. »Und dann hat mich der Offizier angeschaut und gemeint: Sie können mir helfen.« Der 18-Jährige musste einen Tag lang Dokumente übersetzen, die in der historischen Sütterlinschrift verfasst waren. »Dann war der Amerikaner so freundlich und hat mich aus seinem Kreis rausgefahren.« Von diesem Moment an lief Weimar nur noch auf Autobahnen, um einer weiteren möglichen Gefangennahme zu entgehen.

Zweimal gab Weimar auf dem Heimweg Geld aus: einmal für neue Sohlen an seinen Schuhen, einmal für eine Übernachtung in einem Wirtshaus kurz nach Karlsruhe, »drei Reichsmark fünfzig«. Das war die letzte Übernachtung vor einem ungewissen Wiedersehen. »Am Tag danach bin ich 38 Kilometer bergauf gelaufen, nach Pforzheim. Der höchste Punkt auf diesem Weg war der Friedhof. Und da hab ich eine Frau getroffen, die zwei Häuser neben uns gewohnt hat.«
Von dieser Nachbarin erfuhr Weimar, dass seine Eltern und seine Schwester den verheerenden Angriff am 23. Februar 1945 überlebt hatten. Rund 17.600 andere Einwohner hatten weniger Glück: Sie starben, als die britische Royal Air Force binnen 20 Minuten rund 83 Prozent der Stadtfläche zerstörte. Der Angriff gilt - gemessen an der Stadtgröße Pforzheims - als einer der verheerendsten Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs in Europa.
»Meine Schwester hat gesehen, wie Menschen wegen dieser Hitze einfach umgefallen sind«
Weimars fünf Jahre ältere Schwester Lore war zum Zeitpunkt des Angriffs als Luftschutzhelferin eingeteilt. In eine durchnässte Decke gehüllt flüchtete sie durch die brennenden Straßenzüge. »Diese Decke war gegen die extreme Hitze«, erzählt Weimar. »Meine Schwester hat gesehen, wie Menschen wegen dieser Hitze einfach umgefallen sind. Und sie hatte keine Kraft, ihnen zu helfen.« Weimars Eltern überlebten den Angriff im Keller ihres Wohnhauses, »da wurde nur das Dach zerstört«. Die Großeltern mütterlicherseits starben, »da wurde das ganze Haus zerstört«. Und das waren nicht die einzigen Todesopfer, die die Familie im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte: drei Onkel und zwei Cousins von Weimar fielen bei auf den Schlachtfeldern Europas.
Hans Weimar, Jahrgang 1927, gehörte zu den Jüngsten, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch eingezogen wurden. Er meldete sich freiwillig, wollte, wenn es schon in den Krieg geht, zur Marine. Im Juli 1944 kam Weimar, da war er frisch 17 Jahre alt, zunächst drei Monate zum Arbeitsdienst. Da wurden die Burschen mit Essen aufgepäppelt, erinnert er sich. Im Oktober 1944 ging's dann auf die Marinekriegsschule nach Flensburg-Mürwik. »Da wurden wir geschliffen«, erinnert sich Weimar: 60-Kilometer-Märsche, Drill, ein gnadenloser Ton. »Ein Offizier meinte zu uns: Wenn er mit uns in den Kampf muss, schießt er uns rein. Damit wollte er uns sagen, dass wir feige sind.« Weimar schüttelt den Kopf und denkt nach: »Das kann man doch zu seinen Soldaten nicht sagen ...«
Nach der Grundausbildung verrichtete Weimar zwei Monate lang Dienst auf dem Kriegsschiff Kreuzer Köln. »Dort haben wir den Kessel repariert«, erinnert er sich. »Aber wir sind nicht mehr rausgefahren. Wenn ein Kriegsschiff noch rausgefahren wäre, wär's direkt von den Amerikanern oder den Engländern versenkt worden.« Der Kreuzer Köln wurde am 28. März 1945 durch einen Luftangriff im Hafen von Wilhelmshaven zerstört. Zu diesem Zeitpunkt hatte man für Hans Weimar und seine Kameraden aber schon eine andere Verwendung gefunden: Sie kamen zum Heer, »das hat den Marine-Offizieren gar nicht gefallen«. Als sogenannter Großdeutscher Pionier wurde Weimar einer Brückenbau-Kompanie zugeteilt, »wir mussten eine Brücke über einen Fluss bauen«. Den jungen Soldaten wurde gesagt, sie müssten helfen, eine Armee zurückzuführen. Doch es kam keine deutsche Armee - die verbliebenen Soldaten waren in alle Richtungen versprengt. Dafür kamen die Engländer. »Die haben uns zugeballert, die haben geschossen aus allen Rohren, wir hatten gar nichts.« Auf wundersame Weise überstand Weimars ganze Kompanie dieses Gefecht.
»Man hat uns gesagt, dass wir nun vermutlich mit den Amerikanern gegen die Russen kämpfen werden«
»Dann wurden wir noch einmal abkommandiert, zu den Sturmbooten«, erinnert sich Weimar an diese letzten Kriegswochen. Sturmboote waren kleine, wendige und meist leicht gebaute Boote, die primär zur schnellen Truppenüberquerung eines Flusses oder zum Sturmangriff genutzt wurden. Mit einer letzten Parole versuchte man die Soldaten bei der Stange zu halten: »Man hat uns gesagt, dass wir nun vermutlich mit den Amerikanern gegen die Russen kämpfen werden.« Doch Hans Weimar glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an einen Sieg. »Wir sind stoisch geworden. Wir haben das alles in gewisser Weise über uns ergehen lassen«, rekapitulierte er. Schon während der Grundausbildung hätten sich in ihm Zweifel geregt. »Gewehr präsentieren, dann diese Gewaltmärsche ... da dachte sogar ich als eigentlich treuer Hitlerjunge: So ein Krampf, was soll denn das?«
Hans Weimar hatte Glück, viel Glück. Er überstand den Krieg als junger Soldat, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, wie er sagt. Sein Jugendfreund aus Pforzheim, mit dem er sich im Frühjahr 1944 gemeinsam gemeldet hatte, kam nicht mehr nach Hause zurück.
»Da dachte sogar ich als eigentlich treuer Hitlerjunge: So ein Krampf, was soll denn das«
Rund vier Wochen war Hans Weimar im Frühjahr 1945 also quer durch Deutschland nach Pforzheim unterwegs. Wiedervereint mit Mutter und Schwester machte er sich dann nochmal zwei Tage lang auf den Weg nach Altenburg, der Heimatort seines Vaters. Dort holten ihn die unglaublichen Erlebnisse ein oder zwei Jahre nach Kriegsende nochmal ein. Er bekam per Post das Foto seines Wehrpasses zugeschickt, den er bei seiner kurzen Gefangenschaft im Schrank des Rathauses versteckt hatte. »Ein Soldat, der dort aufräumen musste, war mit mir in der Ausbildungskompanie gewesen. Er kannte mich. Und er hat den Pass gefunden und mir das Foto zugeschickt.« Hans Weimar bewahrt das kleine Foto bis heute auf. (GEA)
Die letzten Zeitzeugen
Der Zweite Weltkrieg steht für das Menschheitsverbrechen des Holocaust, für massenhafte Vertreibung, Trauer, Leid, Tod, traumatisierte Menschen, zerstörte Landstriche und Städte. Rund 60 Millionen Menschen starben zwischen 1939 und 1945. Die Aufarbeitung dieser Zeit ist genauso wichtig wie sicherzustellen, dass solche Verbrechen nie wieder passieren. Zur Erinnerungskultur gehört aber auch, den Menschen zuzuhören, die damals gelebt haben. Und dazu bleibt nicht mehr viel Zeit. Der GEA lässt die letzten noch lebenden Zeitzeugen in der Region in einer losen Artikelserie zu Wort kommen.
Viele von ihnen haben sich erst im hohen Alter dazu entschlossen, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Sie waren in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel, wuchsen als Kinder von Nazi-Gegnern wie auch glühenden Partei-Mitgliedern auf. Sie haben Bombardierungen, Vertreibung und Zwangsarbeit erlebt, waren Soldat und sogar in Kriegsgefangenschaft. Ihre Geschichten sollen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zeigen, wie das Leben in Deutschland damals ausgesehen hat. (kk)


