REUTLINGEN. Die Apokalypse beginnt hinter dem Ursulabergtunnel. An diesem Sonntagabend endet die Fahrt in die Reutlinger Südstadt im Stau der Autos, die mit zerschlagenen Scheiben und zerbeulten Dächern mitten auf der Bundesstraße stehen. Urplötzlich war es Dunkel geworden und aus einer zwei bis zehn Kilometer hohen Wolke hatte sich ein Inferno aus Starkregen mit bis zu 8 Zentimeter großen Hagelkörnern im Großraum Reutlingen entladen. Bei Windgeschwindigkeiten von 160 Stundenkilometern prallten zig Tonnen an Eis in die Stadt und richten unermessliche Schäden an. Fast jedes zweite Gebäude wurde beschädigt.
Reutlingens Feuerwehrkommandant Harald Herrmann hat den dienstfreien Tag mit seiner Familie genutzt und war am späten Nachmittag von einem Badeausflug an den Ertinger See auf Rückfahrt. Sein Stellvertreter Adrian Röhrle und neun Mann bilden die übliche Wachbesetzung. Bei ihnen geht um 16.56 Uhr die Warnmeldung des Deutschen Wetterdienstes vor einer Hagelzelle ein. Dreizehn Minuten später löst erstmals eine Brandmeldeanlage aus. Der erste Alarm – von unglaublichen rund 10.900 Notrufen, die folgen werden. Um 17.25 Uhr gibt es Vollalarm für alle Reutlinger Feuerwehren. Ein Fahrer holt Herrmann aus dem Stau. Sie müssen einen Umweg durch die Oststadt machen: »Ich war fassungslos, was sich beim Blick auf die Häuser für Schäden zeigten: Blockierte Wege, umgestürzte Bäume, abgedeckte Gebäude«.
75 Menschen beim Hagel verletzt
Schnell wird ihm klar: »Das bekommen wir alleine nicht gemeistert.« Das Hauptaugenmerk gilt zunächst vier Einsatzschwerpunkten: »Das Kreisklinikum hatte fünfzig durchschlagene Glaskuppelfenster. Wasser dringt in Patienten- und Technikräume ein.« Dann das Netzzentrum der Kabel BW im Heilbrunnen. »Wenn wir das Dach nicht sofort dicht bekommen hätten, wäre das gesamte Internet, Telefonnetz und Fernsehen in drei Landkreisen ausfallen.« Bei Villforth strömt durch das zerhagelte 6.000 Quadratmeter große Sheddach Wasser in die Siebtuchwebmaschinen. Im Altersheim Voller Brunnen droht das Wasser über das Flachdach in die Räume einzudringen.
Der Führungsstab wird hochgefahren, die Verwaltung kommt dazu, auch die Fair Energie. Alle, die gebraucht werden. »Wir haben Notfallpläne für alle möglichen Szenarien in der Schublade. Doch diese Dimension konnte keiner erahnen.«
Überrascht zeigt sich Herrmann davon, dass bei dem Hagel zwar 75 Verletzte registriert wurden. Aber beim Rettungsdienst offensichtlich Normalbetrieb herrschte: »Die Leute kamen mit den Notrufen wohl nicht durch und fuhren selbst in die Klinik.« Die auf 14 Disponenten aufgestockte Leitstelle wird der Lage nicht Herr. Jeder Telefonist kann in der Minute nur zehn Notrufe bearbeiten. Gleichzeitig müssen am Sonntag 900 Kräfte mit 71 Fahrzeugen zu ihren Einsatzorten dirigiert werden. Ihre vordringlichen Aufgaben: Freiräumen von überfluteten Unterführungen, umgestürzter Bäume, Abdichten von Dächern, Verschließen von Dachkuppeln und Auspumpen von Tiefgaragen.
8.000 zerstörte Dachfenster im Reutlinger Stadtgebiet
Gegen 23 Uhr lässt Herrmann die Einsatze abbrechen: »Von den Helfern hat in den fünf Stunden kaum einer was essen können. Aber vor allem: Sehr viele sind selbst Betroffen und wollen daheim nach den Schäden an ihren Gebäuden sehen.« Herrmann kommt nicht wirklich zum Schlafen. Bis dahin sind 584 Einsätze in der Stadt aufgelaufen, 526 weitere im Landkreis. »Eigentlich wäre die Arbeit der Feuerwehr rechtlich weitesgehend erledigt, es herrschte kein Notstand mehr. Nun müssten sich normalerweise die Geschädigten an Handwerker wenden«, so Herrmann. Aber zusammen mit der Stadtverwaltung traf man die menschlich richtige Entscheidung: »Wir machen weiter. Es gab über 8.000 offene Dachfenster in der Stadt und es regnete. Die Leute waren mit den Nerven fertig.«
Nun muss organisiert werden: Feuerwehrleute besorgen 30.000 Meter Dachlatten, 250.000 Quadratmeter Folienfläche, 1,4 Tonnen Nägel und 30.000 Meter Klebeband sowie 500 Latthämmer.
Am Montag um 6 Uhr bespricht er sich mit den Abteilungskommandanten. Die Reutlinger Führung wird durch Kräfte der Mobilen Führungsunterstützungseinheit der Berufsfeuerwehr Stuttgart unterstützt. Eine Premiere im Land. Aus allen Teilen des Regierungsbezirks kommen Feuerwehren und THW zur Überlandhilfe. »Der Ausnahmezustand ging in den zweiten Tag. Weitere rund 1.600 Notrufe liefen auf.« Die Zahl der Einsätze steigt im Landkreis auf 1.850, 800 Helfer (davon 314 nur in der Stadt), mit 123 Fahrzeugen sind im Dauereinsatz. In den Stadtteilen gibt es Koordinierungsstellen und je eine Drehleiter. »Die Bevölkerung hat in der Regel mit Verständnis und Besonnenheit reagiert.«
Schließlich beendet die Wehr am Freitag, 2. August, den Großeinsatz. Über 2.500 meist ehrenamtliche Helfer haben 2.900 Aufträge abgearbeitet, teils bei Temperaturen von über 34 Grad. (GEA)