REUTLINGEN. Die Zahl der Wohnungslosen steigt immer weiter an, in ganz Deutschland – und auch in Reutlingen. Im vergangenen Jahr hatten in der Achalmstadt 695 Männer und 210 Frauen die AWO-Fachberatungsstelle für Wohnungslose aufgesucht, wie Heike Hein als stellvertretende Geschäftsführerin erläutert. Die Zahlen waren auch auf Plakaten zu lesen, die Hauptamtliche der Arbeiterwohlfahrt Reutlingen sowie der Mobilen Jugendarbeit aus Reutlingen, Tübingen und Metzingen am bundesweiten Tag der Wohnungslosigkeit beim Gang durch die Wilhelmstraße zeigten.
Rund 30 Personen liefen von der Marienkirche zur Citykirche, ihre Botschaften wie »Würde ist unverhandelbar«, »Gemeinsam mehr erreichen« oder auch die Aufforderung »Wohnraum schaffen« unterstrich auch Heide Barth von der Reutlinger Mobilen Jugendarbeit: »Es muss endlich was passieren, es ist genug geredet, jetzt muss endlich mehr Wohnraum entstehen.« Denn nahezu täglich würden junge Menschen bei ihr im Büro auftauchen, die keine Wohnung hätten. Und ohne Wohnung kriegen sie keine Arbeit – ein Teufelskreis.
Betroffene berichten aus ihrer Erfahrung
Rabia Erbas unterstützte die Aktion in Reutlingen: »Es kann nicht sein, dass Menschen keine Wohnung finden, weil der Nachname nicht deutsch genug klingt«, findet die Auszubildende, die in Rappertshofen tätig ist. »Mit dem Wohnungsbau müssen jetzt endlich die wichtigen Themen angegangen werden«, forderte Katja Haag, Studentin der Theologischen Hochschule.
Einer der Demonstranten, Martin Rieder, war lange Zeit selbst betroffen von Wohnungslosigkeit. Von 2011 bis 2021 lebte er auf der Straße, »seitdem habe ich eine Wohnung in einer Oase«. Dort wird er nicht alleingelassen, »wir von der AWO betreuen und unterstützen ihn ambulant«, so Hein. »Darüber bin ich sehr froh«, sagte Rieder. »Ich bin gesund und munter und arbeite ehrenamtlich in der Nikolaikirche.« Ein großer Erfolg für Martin Rieder und für die AWO – doch annähernd 1.000 akut Wohnungssuchende in Reutlingen kommen vor allem durch »Couchsurfing« bei Freunden oder Bekannten unter – Tendenz steigend. »Mehr als 200 Menschen kommen hinzu, die wir über NAWO präventiv betreuen, und die zum Teil massiv von Wohnungslosigkeit bedroht sind«, so Heike Hein.
Ebenfalls nicht erfasst sind die Menschen, die ordnungsrechtlich von den Kommunen untergebracht werden müssen. »Da sind auch viele Familien darunter«, sagte Verena Winter. Sie kümmert sich in einem Landesprojekt speziell um wohnungslose Familien. »Das Hilfesystem für Wohnungslose ist auf Einzelpersonen und nicht auf Familien ausgerichtet«, so Hein.
Wohnungslose Familien in der Region
Winter führt ein Beispiel an: Eine junge Familie musste schon vor acht Jahren wegen Eigenbedarf aus ihrer Mietwohnung raus. »Das siebenjährige Kind kommt jetzt in die Schule und hat noch nie was anderes erlebt, als die Notunterbringung«, sagte Verena Winter empört. Rassismus spiele in diesem Fall eine Rolle, weil die Familie einen fremdländischen Namen hat und eine dunkle Hautfarbe.
Es gebe viele Anfragen von Familien, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder in den ordnungsrechtlichen Unterkünften hausen. »Ich könnte locker auf 100 Prozent aufstocken, aber das Landesprojekt geht nur anderthalb Jahre, dann müsste der Landkreis für die Kosten aufkommen«, sagte Winter, die eine 50-Prozent-Stelle hat. Die Probleme sind groß, »im Regierungsprogramm der Ampel stand drin, dass sie bis 2030 die Wohnungslosigkeit beseitigt haben will«, erklärte AWO-Geschäftsführer Uli Högel. »Ich würde das ja gerne glauben – aber ich gehe nicht davon aus, dass dieses Ziel erreicht wird.« (GEA)