REUTLINGEN. Mehr als 400 Jahre lang, von 1374 bis 1802, war Reutlingen eine freie Reichsstadt, und damit keinen Landesfürsten, sondern unmittelbar dem Kaiser untertan. Diesen besonderen Status hat die Stadt mit einem Schwörtag jedes Jahr von Neuem gefeiert - und zwar stets am 2. Sonntag nach dem 4. Juli. Laut Dr. Aribert Rothe war diese heute zum immateriellen Kulturerbe der Unesco zählende Veranstaltung »das zentrale politische Stadtereignis, in dem sich Bürgermeister und Bürgerschaft aufeinander einschworen«.
Und zugleich ein allgemeiner Festtag, also ein »Tag demokratischen Frohsinns«, wie es Dr. Werner Ströbele, der Vorsitzende des Reutlinger Geschichtsvereins, zusammenfasst. So passt es, dass die Stadt, seit sie 2005 unter Oberbürgermeisterin Barbara Bosch mit dem Schwörtag der Moderne wieder an die Tradition anknüpft, ihr Schwörwochenende ganz vielfältig gestaltet. Nach einer Führung zum Thema Schwörtag und Macht der Zünfte am Sonntag zuvor, bildet am Freitag, 12. Juli, der Vortrag von Dr. Aribert Rothe im Foyer des Rathauses den geistig-gediegenen Auftakt zum Schwörwochenende: Kulturamt und Geschichtsverein hatten dem Erfurter Theologen und Erziehungswissenschaftler, der während der friedlichen Revolution von 1989 eine wichtige Rolle spielte, die Frage »Was schafft Frieden in der Stadt?« gestellt.
»Ich freue mich jeden Tag, in Freiheit reden und leben zu können«, bekennt der 1952 geborene, in der diktatorisch regierten realsozialistischen DDR groß gewordene Gelehrte. Er betont: Für den Frieden in der Stadtgesellschaft sei es »wichtig, dass Menschen ihre Ziele, Probleme und Chancen verstehen, dass sie sich, andere und die ganze Lage verstehen«.
Den Geist allenfalls aus der Met-Flasche und mithin das pralle Leben verkörpern zeitgleich die vorübergehenden Bewohner des Reutlinger Volksparks: Dort sind schon am Freitagnachmittag - allen Wolkenbrüchen dieser Tage trotzend - die neuzeitlichen Ritter eingezogen. Zahlreiche Gruppen von nah und fern schlagen auf den Rasenflächen das ganze Schwörwochenende über ihre Lager auf.

Bei stabilerem Wetter köcheln dort am Schwörsamstag gleich am Eingang von der Pomologie her die »Plattenwald-Barbaren« ihr Süppchen über offenem Feuer. Ein paar Schritte weiter wird zum Axtwerfen geladen. Eine Band verscheucht mit ohrerschütterten Dudelsackklängen die restlichen Wolken, während Ritter der »Leitwölfe« Speerkämpfe zeigen. An allerlei Ständen wird dazu um Selbstgemachtes und Stärkendes gefeilscht. Nun ja, der Euro hat anachronistisch schon Einzug gehalten in dieser nachgestellten Welt.
Der Reutlinger Rentner Andreas Rösch zeigt an seiner nach altem Vorbild selbstgebauten Drechselbank, wie aus einem Stück Birnenholz ganz ohne Strom ein praktischer - und schöner - Flaschenverschluss entsteht. Vom Topf über offenem Feuer des Rittervolk Trochtelfingen, dem er seit einigen Jahren angehört, zieht der Duft köchelnder Linsen herüber, während der langjährige Schreiner und Modellbauer erzählt, wie er am Freitagabend nicht nur äußerlich durch den Regen, sondern später beim »Zammhocken« auch innerlich recht feucht geworden sei. Eine Metzinger Besucherin, die sagt, »dies ist nicht meine Welt, aber die Leute sind cool«, empfiehlt den Eiskaffee am makrameegeschmückten Bubble-Waffel-Stand. Der sei so richtig »mit Liebe gemacht«.

Die Tübinger Schüler Meo und Anton haben gute Gründe, weshalb sie authentisch in Ritter- und Landsknecht-Kluft über den Markt ziehen. Dabei ist das zum Teil recht beschwerlich. Das zeigt sich, als Meo beim Versuch, ein paar Flyer aufzuheben, aufs Hinknien in seiner kiloschweren Metallrüstung dann doch lieber verzichtet. Und stattdessen den leichter gewandeten Anton zu Hilfe ruft. Landsknechte wie er waren »die Machos ihrer Zeit«, erklärt der zu seinem Kostüm. Heute würden sie vermutlich im Ferrari um den Marktbrunnen cruisen. Er führt stolz sein Federstahlschwert vor, auf das er eigens gespart hat.
Die 13- und 14-Jährigen sind nicht nur Geschichtsfans, sondern lieben seit Jahren solche »Kurzurlaube« mit Familie und Freunden. Erstaunlich, wie einen das Schlafen im Zelt aus dem Alltag herausholt: »Man schläft schneller ein, wacht früher auf und ist trotzdem voll ausgeschlafen«, erzählt Meo. Sie haben absichtlich keine Uhren dabei. Zum Frühstück gibt es dann Rührei und Brot. »Wir verkaufen hier nichts«, sagt der junge Ritter. Aber mit seinem Bruder zeigen die beiden Vollkontaktkämpfe und Schwertfechten. Und beteuern: »sonst gehen wir in die Schule und sind ganz normale Leute«.

Von 18 bis 23 Uhr stimmen am Samstagabend im Hof des Friedrich-List-Gymnasiums - dem einstigen Schwörhof - die Stadtkapelle und eine Band aufs Schwörwochenende ein. Dirigent Markus Frieß erläutert humorvoll das Repertoire der Stadtkapelle und stellt einzelne Musiker mit ihren Instrumenten vor: Jan an der Tuba und Jule mit ihrer Piccolo-Flöte. Die spielt darauf gleich das »Rock Opening« - »da rumpelt's, das ist echt schön«, erklärt der Orchesterleiter. Auf den feurigen »Säbeltanz« folgen, Polka, Ballettmusik, Popstücke von Gilbert O'Sullivan und den Carpenters sowie die Fernsehmelodie der »Sendung mit der Maus«. Während sich die Biergarnituren unter den Kastanienbäumen zunehmend füllen, hüpfen Kinder mit den Fähnchen in den Stadtfarben Schwarz-Rot-Weiß umher, welche Mitarbeiterinnen des Kulturamts verteilt haben.
Um 19.30 Uhr folgt eine Neuerung dieses 18. Schwörtags der Moderne: OB Thomas Keck sticht das von der regionalen Brauerei gespendete 30-Liter-Bierfass an. Drei vier Schläge mit dem Holzhammer, dann steckt der Hahn fest im Holz, der Weizensaft sprudelt und wird als Freibier an die flugs herbeigeeilten Durstigen verteilt - allen voran der lokale MdB Pascal Kober (FDP). Moderatorin Steffi Renz verweist darauf, dass Reutlinger Vereine, Bäcker, Metzger sowie Schüler der List-Oberstufe noch viel mehr zum Essen und Trinken bereithalten: »Da hinten knallen die Sektkorken, jawohl, so wollen wir das haben!«
Bald darauf wandelt sich der Hock zum Schwof: Um 20 Uhr entert die Stuttgarter Band Stereolines die Bühne im Hof des Friedrich-List-Gymnasiums. Mit eigenen Stücken und Cover-Versionen unter anderem von Incubus laden die vier Musiker, die schon Erfahrungen als Vorband von Pur und Carlos Santana gesammelt haben, zum Tanz. Nach anfänglichem Zögern kommt die Festgesellschaft bei diesem kostenlosen Konzert der Aufforderung gern nach - allen voran SPD-Gemeinderat Helmut Treutlein und seine Frau.
Am Sonntag, 14. Juli, geht das Schwörtags-Programm weiter: Um 11.30 Uhr wird OB Keck die Schwörtagsrede halten - traditionell mit Eid, umrahmt vom Fahnenflaigen und den Schulchören des List-Gymnasiums und der Schützengilde. (GEA)