KREIS REUTLINGEN. Die einen jubeln nach diesem Abend, die anderen ziehen ein langes Gesicht. Doch unabhängig von der politischen Einstellung eines jeden Wählers lässt sich gegen Mitternacht sagen: Der Wahlkreis Reutlingen hat bei dieser Wahl verloren. Die Zahl seiner Abgeordneten in Berlin hat sich mindestens halbiert. Denn in Berlin haben die Abgeordneten für die Anliegen ihres Wahlkreises immer auch an einem Strang gezogen.
Erwartbar war, dass es CDU-Mann Michael Donth zum vierten Mal schafft, das Direktmandat zu holen. Eher überraschend zieht dagegen aller Voraussicht nach Anne Zerr von den Linken für den Wahlkreis in den Bundestag ein. Sie ist die klare Gewinnerin des Abends. Für die ehemalige Linken-Abgeordnete Jessica Tatti, nun Landes-Spitzenkandidatin des BSW, wurde es sehr knapp, sie musste zum Redaktionsschluss noch bibbern. Das BSW hat keine Direktkandidaten aufgestellt bei dieser Wahl - und diesen Eindruck hatte man an der Basis auch. Tatti hat ihren ehemaligen Wahlkreis Reutlingen scheinbar aufgegeben: keine Plakate an den Laternenmasten, kein offensiver Wahlkampf. Damit hat sie sicher Stimmen fürs BSW verschenkt in einer Stadt, in der sie durchaus noch populär ist.
Für Jaron Immer, den Youngster der Grünen, ist das Ergebnis bitter: Hat er doch einen engagierten und souveränen Wahlkampf abgeliefert. Auf Social Media war er dauerhaft präsent, stellte sich den Fragen von Nutzern in Live-Videos. Aber er scheute auch nicht den Besuch in Wirthäusern auf der Alb, also in Gebieten, die traditionell nicht zu den Grünen-Hochburgen gehören. Nun hat er vier Jahre Zeit, sich politsch noch mehr einen Namen zu machen. Dann reicht's bei der nächsten Wahl für einen besseren Listenplatz - und damit vielleicht fürs Mandat. Immer wäre dann 23 Jahre alt. Den Vorwurf, dass ein Schulabgänger nichts im Bundestag zu suchen hat, müsste er sich nicht mehr gefallen lassen.
Der Wahlkreis Reutlingen ist ein Abbild von Deutschland: Die Bevölkerung ist nach rechts gerückt. Das gilt es nun zu akzeptieren, ohne Beschimpfungen und Diffamierungen. Den Wählern ist zu wünschen, dass sich die Wogen in Berlin wie auch in Reutlingen wieder glätten, und dass die Mandatsträger auf Bundes- wie Stadtebene fürs Wohl des Wählers zusammenarbeiten. Der Umgang der demokratischen Parteien miteinander in den vergangenen Wochen war stellenweise mehr als fraglich. (GEA)