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Aktuell Medizin

Das Dilemma des Reutlinger Kreisklinikums

Pflegebedürftige Patienten belegen Betten im Reutlinger Klinikum am Steinenberg, weil ihre Weiterversorgung nicht gewährleistet ist. Doch die Betten werden für Notfallpatienten gebraucht. Was nun?

Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg.
Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg. Foto: Stephan Zenke
Flurbetten für Notfälle gibt es immer wieder im Klinikum am Steinenberg.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Die Kreiskliniken Reutlingen stecken in einem Dilemma: Pflegebedürftige Patienten, für die das Krankenhaus akutmedizinisch nichts mehr tun kann, belegen dringend benötigte Betten. Aber diese meist hochbetagten Menschen in die häusliche Pflege oder eine weiterführende Einrichtung zu entlassen, ist schwierig und benötigt Zeit. Die Situation ist für alle Beteiligten sowohl emotional als auch finanziell belastend. Währenddessen stehen in den Gängen des Kreisklinikums schon Flurbetten.

»Wir haben zunehmend mehr Patienten, die akutmedizinisch austherapiert sind, und die eine Anschlussbehandlung brauchen«, sagt Dominik Nusser als Geschäftsführer der Kreiskliniken Reutlingen GmbH. 50 Menschen, auf die das zutrifft, befinden sich derzeit am Steinenberg – damit hat sich die Situation seit dem Sommer nicht entspannt. Doch jetzt kommen mit dem Winter mehr Menschen, die irgendein Virus befallen hat, oder die gestürzt sind. »Der Druck ist enorm hoch«, bedauert Nusser, »Flurbetten für Notfälle gibt es deshalb immer wieder«. Chefarzt Professor Dr. med. Friedrich K. Pühringer sieht sehr unglücklich aus, wenn er von »Bettennot« spricht.

Dessen ungeachtet werde natürlich niemand abgewiesen. »Wir nehmen alle auf«, so Pühringer. Aber die Situation sei höchst unbefriedigend. »Wir übernehmen durchaus auch die Aufgaben eines Pflegeheimes«, kommt Nusser auf einen Punkt zu sprechen, der problematisch ist: weil das erstens nicht die Aufgabe der Kreiskliniken sei, und es zweitens dafür auch kein Geld gebe. Auf die Frage, ob diese Pflegebedürftigen praktisch finanziell Gäste des Hauses seien, widerspricht keiner vom Klinikmanagement. Wobei allen die Sorgen und Nöte der Angehörigen von Seniorinnen und Senioren bewusst sind.

»Wir brauchen die Mithilfe der Angehörigen«

Die meisten alten Menschen wollen nicht ins Pflegeheim, sondern - so lange es geht - ihr selbstbestimmtes Leben in vertrauter Umgebung genießen. Durch den medizinischen Fortschritt geht das immer länger, aber nicht endlos. Wenn es dann so weit ist, dass Mutter einfach nicht mehr alleine kann, oder Opa nun wirklich Hilfe zur Bewältigung seines Alltags braucht, dann ist das für die ganze Familie eine Herausforderung. »Die Angehörigen sagen uns, sie könnten nicht mehr«, berichtet Pflegedirektor Frank Miertsch von Gesprächen mit Kindern oder anderen Verwandten - typischerweise, wenn die geliebten Alten nach einem Notfall oder weiterer Verschlechterung ihres Allgemeinzustandes im Krankenhaus liegen, aber eine Weiterversorgung gebraucht wird. Selbstverständlich verfügt das Kreisklinikum über einen Sozialdienst, gibt es ein Entlassungsmanagement. Trotzdem ist für manche Angehörige die Situation eine böse Überraschung, mit der sich niemand zuvor intensiv auseinandergesetzt hat.

»Wir ziehen am Ende alle am gleichen Strang. Wir wollen, dass der Patient optimal versorgt ist«, betont Kim Oberwahrenbrock, Leiterin des Sozialdienstes: »Aber wir brauchen die Mithilfe der Angehörigen«. Das ist der springende Punkt, auf den die Kreiskliniken jetzt dringend hinweisen müssen. Denn die Diskussionen mit den Verwandten von Pflegebedürftigen, die erst, wenn es wirklich nicht mehr anders geht, einen Heimplatz suchen oder sich mit dem Thema »Häusliche Pflege« beschäftigen, sind oft wenig erfreulich. Manche Angehörigen vergessen in ihrer gewiss vorhandenen Stress-Situation die Grundregeln des Anstands. »Die Drohungen sind in den letzten Jahren deutlich nach oben gegangen«, sagt Pflegedirektor Miertsch. Da würden dann rechtliche Schritte in Aussicht gestellt, wenn Oma nicht noch länger im Krankenhaus bleiben kann. Wobei auch hier wieder das Dilemma deutlich wird.

Blick in ein Dreibettzimmer im Klinikum am Steinenberg
Blick in ein Dreibettzimmer im Klinikum am Steinenberg Foto: Stephan Zenke
Blick in ein Dreibettzimmer im Klinikum am Steinenberg
Foto: Stephan Zenke

»Wir lassen niemanden im Regen stehen«, betont Geschäftsführer Nusser. Jedoch bitte man Angehörige dringend darum, die vorhandenen Beratungs- und Hilfsangebote auch anzunehmen, die Lage gemeinsam konstruktiv anzugehen. »Patienten, die wir in die häusliche Pflege entlassen, haben eine gesicherte Finanzierung, wenn es gerechtfertigt ist«, betont Sozialdienstleiterin Oberwahrenbrock.

Wer sich um seine älter werdenden und pflegebedürftigen Angehörigen kümmert, könne auch Pflegeurlaub bekommen. Krankenkassen bezahlten Hilfsmittel wie Pflegebetten oder Gehhilfen. Mit alledem solle man sich allerdings frühzeitig beschäftigen - tunlichst bevor der Notfall eintritt.

Die Ärzte des Kreisklinikums bemühten sich jedenfalls, so Chefarzt Pühringer, »den Leuten zu erklären, wo das hinführt«. Mit dem »das« meint der Mediziner Diagnosen wie Diabetes oder Bluthochdruck, sprich das Altwerden an sich. Teils könne jeder selbst etwas dafür tun, dass er länger selbstständig bleibt. Aber gegen Ende des Lebens kann es damit vorbei sein – und das solle jeder rechtzeitig bedenken. Pühringer ruft dazu auf, sich zu überlegen: »Was ist, wenn man alt wird – was will ich dann.« (GEA)