REUTLINGEN-ALTENBURG. Sie waren Kinder, als am 15. Januar 1945 auf Reutlingen 1.400 Sprengbomben und 6.000 Brandbomben abgeworfen wurden. »Es war ein herrlicher Sommertag«, erinnerte sich Rita Stehle, eine der etwa 40 Augenzeugen, die Journalist Raimund Vollmer in den vergangenen 15 Jahren zum Kriegsende interviewt hat. Den daraus entstandenen Film führte er beim Altenburger Abend des Geschichts- und Heimatvereins im evangelischen Gemeindehaus vor. »Es sind Erinnerungen, die so, wie sie in den Köpfen der Leute bis heute sind, erzählt werden«, sagte er einleitend. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument, das keinen Anspruch auf die historische Wahrheit erhebt, sondern erlebte Geschichte wiedergibt. Manche der Menschen, die im Film zu Wort kommen, sind inzwischen verstorben.
In der Doku erinnert sich Rita Stehle, wie sie am Amtsgericht stand und die Flieger über sie hinwegzogen. Sie habe an diesem Tag Glück gehabt. Kaum 15 Minuten, nachdem sie in der Wilhelmstraße 105, ihren Eltern gehörte das Feinkostgeschäft Wagner, bei ihrer Schwester angekommen war, hat alles gewackelt. Zehn Minuten dauerte der Angriff. Danach war alles schwarz, der Himmel nicht mehr zu sehen. Hilde Franz, damals neun Jahre alt, wusste noch, wie das Löschwasser sofort gefroren ist, eine bizarre Schönheit in den Ruinen.
»Als Kind hat man regelrecht gezittert«, erzählte Dr. Knut Hochleitner. Ein Zittern, das ihn bis vor wenigen Jahren begleitete, wenn Bundeswehrflieger bei Übungen im Tiefflug über ihn hinwegzogen. Als er fünfjährig mit seinen Eltern in den Bunker in der Emil-Adolff-Straße floh, habe die Straße rechts und links schon gebrannt. Beengend und beängstigend sei es im Bunker gewesen, sagte Rainer Zeeb. Auf Säcken und Decken habe er gelegen.
»Es war lächerlich, die Brücke, die keine Bedeutung hatte, zu sprengen«
Eine Pause wollten die Altenburger an diesem Abend nicht, so fesselnd waren die Erzählungen.
»Und dann sind die Panzer gekommen«, erinnerte sich Anneliese Siemes beim Interview an die Zeit, nachdem Reutlingens früherer Oberbürgermeister Oskar Kalbfell mit weißer Flagge den Franzosen entgegentrat. Aus Angst vor Plünderungen hat sie den Silberschmuck, den sie zu ihrer Konfirmation bekommen hat, vergraben. Richard Wagner, 1945 Lehrling bei Juwelier Depperich, bepackt mit Werkzeugen, die er bei sich aufbewahren wollte, wurde auf dem Fahrrad am Burgplatz beschossen. 94 Einschusslöcher will er später an den Hauswänden gezählt haben. Von den Franzosen für einen »Werwolf« gehalten und gefangen genommen, entkam Walz nur knapp dem Tod. »Wir waren ein bisschen mausig, man sieht ja, dass man erschossen werden sollte, aber man glaubt’s nicht.« Die Angst vor Plünderungen und Übergriffen war groß, besonders die Frauen und Mädchen fürchteten sich.
In Altenburg sprengten die Einwohner die Kanalbrücke, um die Franzosen fernzuhalten, doch sie kamen über Kirchentellinsfurt ins Dorf. Noch heute ist die Entscheidung im Ort umstritten. So findet Gerhard Rist im Film: »Es war lächerlich, die Brücke, die keine Bedeutung hatte, zu sprengen.«
Mit dem Feuer spielte derweil Erich Diebold, der mit einem Freund eine Brandbombe hochgehen ließ und dabei schwer verletzt wurde.
Jede einzelne Geschichte ruft Gänsehaut hervor, ist unterlegt mit eindrücklichen Bildern, die die grausamen Kriegszeiten sichtbar machen. Und doch gab es auch die heiteren, glücklichen Erinnerungen. Etwa an die große Salami, die ein Junge fand und die mit Genuss verspeist wurde, nachdem ein im Rollstuhl sitzender Nachbar sich als Vorkoster angeboten hatte. Oder als Karl Floten trocken feststellte, dass er als Zwölfjähriger enttäuscht war, dass nie die Schule getroffen wurde. Die Protagonisten des Films erzählen vom »Hamstern« auf der Alb, wo sie Steckzwiebeln gegen Schnaps, Rasierklingen und Seife gegen Fleisch und Brot tauschten, und wie sie ihre eigenen Väter nicht mehr wiedererkannten, als die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten.
Es war eine Zeit, die sie nicht mehr vergessen, sagten Lore Nonnenmacher, Gretel Benrad, Lotte Hahn und Ruth Heusel beim Altenburger Abend. Sie schauten sich den Film an, weil sie das alles mitgemacht haben, aber auch, weil Freunde von ihnen interviewt worden sind.
Vieles hätten sie nach Jahrzehnten gar nicht mehr erinnert. Mit diesen Bildern im Kopf und den Geschehnissen in der Ukraine vor Augen graust es ihnen, sagen die vier Frauen. Sie wissen, was die Menschen dort durchmachen und hoffen, wie viele, dass der Krieg bald ein Ende hat. (GEA)