Logo
Aktuell Kundgebung

CSD in Reutlingen: Feierlust und besorgte Töne

Beim dritten Reutlinger Christopher Street Day wurden wieder Vielfalt und Toleranz gefeiert. Die Freiheit anders zu sein, sehen derweil viele durch das Erstarken der rechten Kräfte in Gefahr.

Eine bunte Schlange mit rund 700 Teilnehmern zog unter anderem über die Kaiserstraße.  FOTOS: REISNER
Eine bunte Schlange mit rund 700 Teilnehmern zog unter anderem über die Kaiserstraße. FOTOS: REISNER
Eine bunte Schlange mit rund 700 Teilnehmern zog unter anderem über die Kaiserstraße. FOTOS: REISNER

REUTLINGEN. »Net falsch, net komisch, oifach I’«: Die Ex-Reutlingerin Miriam ist am Samstag extra aus Lübeck in die alte Heimat angereist, um beim Christopher Street Day (CSD) in Reutlingen ihr Bekenntnis auf Pappkarton hochzuhalten. Was ist diese »I«?: »Ich bin schlicht lesbisch.«

Marie aus Eningen ist trans – als männliches Wesen geboren, identifiziert sie sich als Frau. Die 22-Jährige traut sich mehr als früher, geht geschminkt einkaufen. »Reutlingen ist nicht das queere Hauptzentrum, aber es geht. Und man bleibt unbehelligt.« Auch Katja mag es, in Frauenkleidern einkaufen oder essen zu gehen, beschreibt dies als »Komplettierung ihres Seins« – die sie sich nur in der Freizeit gönnt: Ins Büro geht Katja als Mann.

Andreas changiert, ist »manchmal Mann, manchmal Frau, wie ich Lust habe. Heute bin ich eher Mann.« Aber mit blauen Fingernägeln. Der 58-Jährige ist einer der wenigen Älteren im Zug und sagt Sätze wie »konservativ ist kacke« oder »wenn du alles bewahren willst, musst du alles ändern«.

Martin aus Tübingen trägt eine Hundeschnauzenmaske. Bei der Hitze ein wenig verlockendes Accessoire: »Ist ja nur eine Halbmaske, das hält man aus«, erklärt er. Martin ist »Pet-Play«-Fan. Rollenspiele verschaffen den Anhängern Wohlgefühl. Er fühle sich dabei versetzt »in einen Zustand ohne Sorgen. Bedingungslos glücklich«.

»Wir sind kein Trend, wir sind keine Ideologie, wir sind Menschen«

Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle, non-binäre Menschen, die Pet-Player, sie alle feiern an diesem Samstag ihr So-Sein und das Recht auf Sichtbarkeit. Nach Polizeiangaben werden rund 700 Teilnehmern gezählt. Der Demonstrationszug geht mitten durch die Stadt gen Bürgerpark zur Kundgebung. An den Straßenrändern hat sich etwas Publikum eingefunden: meist Sympathisanten, winkend, klatschend. In der Wilhelmstraße schauen einige Café-Besucher irritiert. Ein junger Mann fährt in der Fußgängerzone mit seinem E-Bike mit hoher Geschwindigkeit schimpfend und haarscharf an einer Dragqueen vorbei. Später brennt eine Mülltonne neben der Bühne.

Immer öfter versuchen Rechtsextreme CSD-Events zu stören. Der Reutlinger CSD ist zeitgleich mit Pforzheim. Dort hat der rechtsextreme »Störtrupp Süd« sogar eine Gegendemo angemeldet.

Auf der Bühne im Bürgerpark berichten Maximilian Berg und Sarah Marie Süßmuth (beide vom Verein CSD Reutlingen) und Betina Starzmann (CSD Stuttgart) von den Sorgen, die die Community umtreiben: Das Erstarken der Rechten in Deutschland und weltweit lässt nicht nur mühsam errungene Toleranz schrumpfen. Immer öfter müssen queere Menschen als Sündenböcke herhalten. Queere Rechte werden abgebaut in Ländern wie Italien oder Polen. Ungarn verbietet Pride-Paraden. In Zeiten der Angst wird Andersartigkeit von Verunsicherten als Bedrohung aufgefasst und von Verunsichernden instrumentalisiert. Maximilian Berg: »Wir sind kein Trend, wir sind keine Ideologie, wir sind Menschen.«

Er formuliert die politischen Forderungen der Community. So verlangt man beispielsweise von der Bundespolitik die Anpassung des Artikels 3 im Grundgesetz. Die Durchsetzung der Gleichberechtigung von »Frauen und Männern« soll in die »Gleichberechtigung aller Menschen« umformuliert werden. Ein weiteres Anliegen: Verbrechen aufgrund sexueller und/oder geschlechtlicher Identität sollen statistisch erfasst werden und als »Hassverbrechen« geahndet werden. Von der Landespolitik wünscht man sich unter anderem bessere Aufklärungsarbeit in den Schulen und mehr Unterstützung und Schutz für Beratungs- und Communitystrukturen gerade auch in ländlichen Bereichen. Von der Stadt Reutlingen fordert die Community unter anderem einen Extrabereich Queer/Diversity im Amt für Integration und Gleichstellung. Und von allen Mitmenschen wünscht man sich Respekt und hofft auf Zivilcourage, wenn queere Menschen angegangen werden.

Durchgestylt: Dragqueen
Durchgestylt: Dragqueen. Foto: Dieter Reisner
Durchgestylt: Dragqueen.
Foto: Dieter Reisner

Erstmals spricht auch der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck auf einem CSD: Er sieht Reutlingen als guten Ort, Vielfalt zu feiern, beschwört die Kraft der Gemeinschaft. Auch er sieht »wachsende Herausforderungen, weil populistische Kräfte mehr Einfluss bekommen«. Keck lobt die erfolgreiche Arbeit des Reutlinger CSD-Vereins aber auch die LGBT-Beratungsstelle Timeout des Girls-Vereins und die Antidiskriminierungsberatung Reutlingen/Tübingen (Adis). Beifall, eine Packung kunterbunte Pride-Pasta und eine Regenbogenfliege darf der OB von seinem Auftritt mitnehmen.

Janboris Ann-Kathrin Rätz, TV-erfahren und im Reutlinger Burgholz aufgewachsen, ist eine non-binäre Person, die »Pipi in die Augen kriegt«, wenn sie auf die bunte Vielfalt vor sich auf dem Rasen schaut. »Wenn ich das jemandem 1993 erzählt hätte …« Zugleich spricht auch sie von einem »zunehmenden Unsicherheitsgefühl außerhalb der Bubbles und safer Spaces«. Rätz wendet sich mit schärferen Worten an die Community: »Wir sind zu still.« Ihre Forderung klar: »Die AfD gehört verboten!«

Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck mit bunter Fliege. Foto: Dieter Reisner
Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck mit bunter Fliege.
Foto: Dieter Reisner

Dann heißt es Bühne frei für Drag-queens und -kings. Das Publikum harrt tapfer aus im glühend heißen Bürgerpark, schlendert zu den Ständen: Von der Aidshilfe bis zu Wirbelwind reicht das Angebot. Auch die Polizei ist mit Christian Waibel und seiner Kollegin Sandra Löffler vertreten: Sie sind im Präsidiumsbereich Reutlingen »Ansprechpersonen für gleichgeschlechtliche Lebensweisen« – ein Bindeglied zwischen Community und Polizei. Auch Waibel berichtet, dass die Zahlen der Hasskriminalität gegen Queere steigen. Er äußert aber die Vermutung, dass dies daran liegt, dass die Bereitschaft, Beleidigungen oder Attacken anzuzeigen, gestiegen ist.

In Reutlingen bleibt es beschaulich an diesem Nachmittag. Und auch in Pforzheim geht der CSD nach Medienberichten friedlicher über die Bühne als vermutet. Dort beharkt sich die Rechte vor allem mit der angereisten Antifa. (GEA)