REUTLINGEN. Der kleine Sitzungssaal 3 ist proppevoll an diesem Morgen. Mehr als 40 Menschen sind gekommen, um die erste Verhandlung des Tages am Reutlinger Amtsgericht zu verfolgen. Nicht alle finden einen Sitzplatz - so ein Andrang herrscht hier selten. Auf der Anklagebank sitzt der Reutlinger Enrico »Enne« Schulz (44). Angeklagt wegen Volksverhetzung. Der Restaurantfachmann und Musiker war besonders im Herbst und Winter 2021 als Kritiker und Gegner der Corona-Maßnahmen in Erscheinung getreten. So hatte er - gemeinsam mit dem Ofterdinger Manuel Tharann - meist verklausuliert vor allem auf dem Messengerdienst Telegram zu Demonstrationen im zweiten Corona-Winter aufgerufen. Diese waren damals zunächst vom Ordnungsamt der Stadt und vom Landratsamt untersagt worden.
Auch bei der Kriminalpolizei in Esslingen war Enrico Schulz zu dieser Zeit im Corona-Demo-Kontext bekannt. Sein Telegram-Kanal wurde überwacht. Und in diesem Kanal tauchte eines Tages der Brief eines Reutlinger Polizisten an einen Reutlinger Richter auf. In dem Brief kritisiert der Polizist die Corona-Maßnahmen, die Rechtsprechung der Justiz und den Ausschluss Ungeimpfter aus vielen Teilen des öffentlichen Lebens. In dem Schreiben steht unter anderem, dass sich diejenigen, die nicht Partei für die »Minderheit« (der Ungeimpften) ergreifen, »mitschuldig wie die Mitwisser der Nazi-Verbrechen« machten. Außerdem: »Jeder in Dachau sah die rauchenden Schornsteine und niemand tat etwas.« Und weiter: »Euer Wegschauen ermöglicht den Rückschritt in dunkle Zeiten. Ich kann nicht anders, als euch zu verachten.«
Verunsicherung der Leser in Kauf genommen?
Schulz hatte den Brief - versehen mit einem einleitenden Satz und Bomben-Emojis - weitergeleitet. Was laut Anklageschrift den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, wie Staatsanwalt Lukas Bleier erklärt. Der direkte Vergleich zwischen den Corona-Maßnahmen und dem Holocaust sei eine »Relativierung und Bagatellisierung« der Nazi-Verbrechen. Die Bedeutung dieses Textes habe auch Schulz erkannt, so Bleier - ihn aber trotzdem weitergeleitet und somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit habe er in Kauf genommen, dass das Vertrauen der Leser des Textes in den Staat erschüttert wird. AfD-Stadt- und Kreisrat Hansjörg Schrade hatte den Brief damals übrigens ebenso auf seinem Telegram-Kanal weitergeleitet. Er muss sich Ende März wegen desselben Vorwurfs vor dem Amtsgericht verantworten.
Schulz sieht sich zu Unrecht auf der Anklagebank. Er habe niemanden verunsichert. Er habe den Lesern vielmehr Mut gemacht, »sie haben es positiv aufgefasst, so steht es schließlich auch in der Akte«. Der im Brief geschilderte Sachverhalt sei lediglich »die Veröffentlichung eines Tatbestandes«, so der 44-Jährige. Und: »Wer zu dieser Zeit die Menschen wirklich verunsichert hat, ist nicht Gegenstand dieser Verhandlung.« Als Schulz dann zu einer generellen Kritik an den Corona-Maßnahmen übergeht, greift Richterin Natalia Gertner ein: »Ich unterbreche Sie nur ungern, aber Sie entfernen sich vom Tatvorwurf.«
Verteidiger will Original-Brief lesen
Warum er den Brief auf seinem Telegram-Kanal weitergeleitet habe, will sie von Schulz wissen. »Weil daraus hervorgeht, dass endlich auch Polizisten mit der Situation unzufrieden sind«, sagt Schulz. »Es hat mir Hoffnung gemacht, dass es noch mehr Menschen in solchen Positionen gibt, die unzufrieden sind.« Aber was wollte er mit dem Weiterleiten erreichen?, fragt Staatsanwalt Bleier. »Endlich einen Diskurs. Der mir sehr gefehlt hat in dieser Zeit.« Der Staatsanwalt will weiter wissen: »Würden Sie ihn heute so nochmal weiterleiten?« Schulz überlegt. Ja, aber er würde den Teil mit der Nazi-Zeit weglassen, sagt er. »Weil ich weiß, dass die Staatsanwaltschaft ein Auge drauf hat.«
Schulz' Verteidiger David Schneider-Addae-Mensah hat den Brief, um den es geht, zum Zeitpunkt der Verhandlung nicht komplett gelesen. Er will sich mit der Version, die in der Anklageschrift abgedruckt ist, nicht zufriedengeben, »das ist für mich ein Brief des PP Reutlingen«. Und so wird beschlossen, dass der Kommissar aus Esslingen vor Gericht gehört werden muss, der damals Schulz' Telegram-Gruppe überwacht hatte. Er ist an diesem Verhandlungstag verhindert. Zwar sagt sein Kollege aus - doch der hatte sich mit Stadtrat Schrades Kanal beschäftigt und den Inhalt des Briefes auch nicht mehr im Detail im Kopf. Die Verhandlung wird voraussichtlich am 19. März um 13 Uhr fortgesetzt. (GEA)
Transparenzhinweis: In einer ersten Version des Textes stand, dass auch Staatsanwalt Bleier den Brief nicht vollständig gelesen hat. Dies ist nicht richtig.