REUTLINGEN. Monatelang sind jeden Samstag Tausende in Reutlingen bei sogenannten Querdenker-Demonstrationen auf die Straße gegangen. Rückblickend hat sich der Tübinger Journalist und Publizist Lucius Teidelbaum, dessen Themen die extreme Rechte und anliegende Grauzonen sind, mit dieser Bewegung beschäftigt. Im Kulturzentrum franz.K analysiert der Autor, wieso ausgerechnet Reutlingen zu einer Hochburg der Querdenker werden konnte – und wer da eigentlich aus welchen Gründen demonstriert hat.
»Das hat eine Eigendynamik entwickelt«, beschreibt Teidelbaum die zeitweise immer größer werdenden Kundgebungen. Etwa in der Form, dass die Querdenker wussten: In Reutlingen ist etwas los, da demonstriere ich nicht alleine. Aber auch durch ein »jetzt erst recht« nach dem Polizeieinsatz vom 18. Dezember 2021, bei dem Menschen von den Ordnungshütern eingeschlossen worden sind – Teilnehmer einer verbotenen Versammlung, aber auch Unbeteiligte, die sich schließlich vor Gericht erfolgreich gegen verhängte Bußgelder gewehrt haben.
Dazu sei Reutlingen verkehrstechnisch gut erreichbar und der Widerstand der Stadtgesellschaft gegen das Geschehen überschaubar geblieben. »In Tübingen gab es immer einen größeren linken Gegenprotest«, erinnert sich Teidelbaum. Doch wer hat da eigentlich unter dem Sammelbegriff »Querdenker« protestiert?
Er würde, so der Journalist, »nicht alle an diesen Demonstrationen beteiligten Menschen als Nazis bezeichnen«. Ebenso verwende er das Wort Querdenker ungern, spreche lieber von »Pandemie-Leugnern«. Die Kundgebungen hätten bundesweit betrachtet »im Bezug auf Veranstalter, Redner sowie Publikum von Ort zu Ort variiert«.
Reichsbürger und Rechte dabei
In Baden-Württemberg seien sie bürgerlicher gewesen als etwa in Sachsen, wo viele Rechte das Bild geprägt hätten. Zu Beginn der Bewegung seien Veranstalter »politisch unerfahren« gewesen. Besonders weist Teidelbaum darauf hin, dass es sich bei vielen Teilnehmern anfangs um Selbstständige gehandelt habe, die besonders direkt von den Corona-Schutzmaßnahmen betroffen gewesen sind. Selbst wenn die Mehrheit der Organisatoren im Land »nicht der klassischen Rechten« zuzuordnen sei, ist ihm eine »starke Beteiligung von Reichsbürgern« aufgefallen.
Wie sich vor allem in Stuttgart gezeigt habe, gebe es im Südwesten zahlreiche »eher esoterisch oder religiös motivierte Menschen« in der Querdenker-Szene. »Die Mehrheit der Demonstranten hat einen postideologischen Anspruch«, meint der Publizist: Die würden sich weder als ›Links‹ noch ›Rechts‹ bezeichnen, sondern »jenseits davon«. Die Rechten seien als »geduldete Minderheit« bei Kundgebungen dabei gewesen, die er teilweise als eine Art Ersatz für andere Großveranstaltungen beschreibt: »Gerade die Demos in Reutlingen waren so eine Art Festival-Erlebnis. Da wurde auch Musik gespielt und getanzt.« Als problematisch beschreibt der Tübinger nicht die bunte Mischung der Querdenker, sondern ihre Entwicklung.
Aus dem »inhaltlichen Gemischtwarenladen und Marktplatz alternativer Fakten« sei eine laut Teidelbaums Analyse »verschwörungsideologische Bewegung« geworden. Die Querdenker geben sich nach seinen Worten thematisch vielfältig und flexibel. Von der Pandemie-Leugnung über die Kinderrechte, das Impfen und eben jetzt die Inflation, »man ist anpassungsfähig. Es hat sich ein Grundmisstrauen eingebrannt, das an alles angelegt wird«. Verschwörungsideologie bedeute, »es wird ein gezielter Plan angenommen oder angedeutet« – und zwar bei allen Themen, die sich gerade anbieten.
»Die Corona-Verharmlosung bis -Leugnung scheint als Einstiegsdroge in die Welt der Verschwörungsideologien zu funktionieren«, betont der Journalist. Dafür gebe es viele praktische Beispiele, die sich bei den Kundgebung in Reutlingen zeigten.
»Eine parlamentarische Demokratie mit einer gewählten Regierung wurde als Diktatur diffamiert«, beginnt Teidelbaum seine Aufzählung. »Man hat eine wissenschaftlich nicht einleuchtende Medizin vertreten, grenzt sich von der Schulmedizin ab«, fährt er fort, »und hat sich zu jeder Art von Impfung seine Ablehnung gebastelt«. Entstanden sei aktuell eine »rechtsoffene, verschwörungsideologische und reaktionäre Bewegung«. Teidelbaum sieht mehrere Risiken.
Gewalttätige Sprache und mehr
Zwar handele es sich bei den Querdenkern nach wie vor um eine »kleine, aber sehr laute Minderheit«, ihn indes besorgen »eine eskalatorische Sprache, Tag-X-Rhetorik und Tötungsfantasien«. Hashtags wie »Hassherbst« oder »Wutwinter« würden in den Netzwerken verbreitet, und im Nachrichtendienst Telegram gebe sich ein harter Kern hemmungslos den wildesten Verschwörungserzählungen hin. Prominente Vertreter der Szene, dazu gehöre auch ein Reutlinger Pathologe, tourten nach wie vor mit ihren Botschaften durchs Land. Grundproblem innerhalb der alles andere als einheitlichen Szene ist für ihn, »dass zu wenig widersprochen wird«. Wie damit als Stadtgesellschaft umgehen?
»Inhalte in den Fokus nehmen«, rät Lucius Teidelbaum. Dazu sollten Gegendemonstrationen auf die Beine gestellt werden. Im Kern gehe es darum, aufzuklären und zu informieren – also die, bei denen das noch möglich sei. (GEA)