REUTLINGEN. Hatte sich die 25-jährige Industriekauffrau aus Nürtingen am 11. April dieses Jahres mit mehr als einer Person in Reutlingen auf dem Parkplatz gegenüber der Agip-Tankstelle In Laisen getroffen? Oder waren es tatsächlich drei unterschiedliche Zweiergruppen, die nichts miteinander zu tun hatten und in einem Abstand zwischen drei und 20 Metern voneinander entfernt standen?
Die Aussagen der Zeugen variierten bei den Angaben über den Abstand zu den anderen Gruppen enorm stark. Klar wurde bei der Vernehmung aller sechs Zeuginnen und Zeugen am Amtsgericht Reutlingen am gestrigen Montag aber: Die junge Nürtingerin stand wohl tatsächlich mit ihrem Freund ein paar Meter entfernt von den anderen.
»Wir hatten uns lange Zeit nicht gesehen und uns auf dem Parkplatz verabredet – Bars, Kneipen und Cafés hatten ja zu«, berichtete die Industriekauffrau. Ihr Freund und sie seien jeweils mit ihren Fahrzeugen zu dem Treffen gekommen, vier weitere Personen befanden sich ebenfalls dort gegen 12.30 Uhr nachts.
Dazu müsse man laut Richter Dr. Toni Böhme wissen, dass Treffen mit einer Person zum Zeitpunkt 11. April nach der Corona-Verordnung gestattet waren – mit mehr als einer Person aus einem anderen Haushalt aber nicht.
Die große Frage, um die sich nun alles im Gerichtssaal drehte, lautete also: Hatte die Nürtingerin (wie alle anderen fünf Personen auf dem Parkplatz) gegen diese Verordnung verstoßen? Oder doch nicht?
Für die Polizei war in dieser Nacht die Frage schnell klar: An der Tankstelle selbst wie auch gegenüber auf dem Parkplatz treffen sich nach Angabe des 42-jährigen Polizeihauptmeisters häufig Mitglieder aus der »Auto-Poser-Szene« mit ihren aufgemotzten Fahrzeugen. In Absprache mit der Stadt soll die Polizei gegen diese Treffen vorgehen. Und das tat sie denn auch – vor allem der Polizeibeamte in besagter Nacht: Im Gegensatz zu seiner jungen Kollegin, die sich stets im Hintergrund gehalten habe, sei der Polizeihauptmeister sehr massiv aufgetreten, wie mehrere Zeugen gestern betonten. Nachdem er aus dem Polizeiwagen ausgestiegen sei, habe er sofort gerufen: »Zack, das macht jetzt 250 Euro pro Person.« »Das war für mich sehr einschüchternd und auch unverschämt«, sagte eine der Zeuginnen.
Sie habe sich ebenso allein mit ihrer Freundin auf dem Parkplatz getroffen, wie ein weiterer junger Mann sich auch mit seinem Freund dort verabredet habe. So richtig glauben wollte das Richter Böhme nicht, dass sich in dieser Nacht drei Zweiergruppen rein zufällig auf demselben Parkplatz unabhängig voneinander getroffen haben wollen. »Und warum sollte sich der Polizeibeamte ausdenken, dass er Klappstühle und Getränke dort gesehen hat – das würde keinen Sinn machen, warum sollte er damit jemanden von Ihnen ›reinreiten‹ wollen?«, hakte der Richter nach.
»Ich kann nicht ausschließen, dass es zwischen den Beteiligten dieser Nacht Absprachen gegeben hat«, führte Böhme weiter seine Bedenken aus. Einwandfrei ausschließen könne er aber nicht, dass die Nürtingerin und ihr Freund tatsächlich nichts mit den anderen auf dem Parkplatz zu tun hatten.
»Die Annahme, dass Sie alle sechs eine Gruppe waren, wird einzig von dem Polizeibeamten gestützt«, so der Richter. War das Bußgeldverfahren gegen die 25-Jährige schlussendlich gerechtfertigt? Hundertprozentig sicher war sich Böhme nicht. Ebenso wenig vom Gegenteil. »Deshalb gibt es auch keinen Freispruch, aber ich schlage Ihnen die Einstellung des Verfahrens vor.« Die Betroffene stimmte zu, immerhin muss sie dadurch weder die Gerichtskosten noch das Bußgeld in Höhe von 178 Euro zahlen.
Die anderen fünf Personen, deren Personalien in jener Nacht ebenfalls aufgenommen wurden, hatten die Summe hingegen bereits überwiesen. »Warum haben Sie das getan, wenn Sie das als ungerecht empfunden haben«, hatte der Richter einen Beteiligten gefragt. »Ich habe der Bußgeldstelle geschrieben, dass ich Einspruch einlege, habe aber keine Antwort erhalten«, sagte einer der Zeugen. Was hätte er sonst tun sollen, als bezahlen, fragte er. (GEA)