REUTLINGEN/REGION. »Wenn man regulatorisch in den Wohnungsmarkt eingreift, muss das Hand und Fuß haben«, sagt Marc Roth. Der 38-jährige Wirtschaftshistoriker ist seit 1. November 2024 hauptamtlicher Geschäftsführer des Deutschen Mieterbunds (DMB) Reutlingen-Tübingen. Seine Forderung bezieht sich auf ein jüngst vom Bund bis Ende 2029 verlängertes Gesetz, das den Anstieg von Mieten verlangsamen soll. Dank dieser »Mietpreisbremse« soll Wohnen für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlbar bleiben. »Über die Verlängerung bin ich erstmal froh«, erklärt er. Doch das Instrument greife zu wenig. Es sei eher eine »ein bisschen angezogene Handbremse«. Nötig wäre zudem, dass Bund und Länder die Kommunen entsprechend finanziell ausstatten. Nur so lasse sich die Schere zwischen Nachfrage und Angebot schließen. »Entweder ich mache eine gute Grund- und Wohnraumpolitik-Politik, oder ich geh' regulatorisch in den Markt. Stattdessen haben wir im Moment so einen unbefriedigenden Schwebezustand.«
Wenn in dieser für Mieter insgesamt schon schwierigen Gemengelage dann zusätzlich noch eine hohe Zuwanderungsrate auf ein knappes Angebot an Mietwohnungen trifft und zugleich die Energiekosten in die Höhe schießen, werden vor allem notleidende Menschen - Einheimische und Zugewanderte - gegeneinander ausgespielt und Verteilungskämpfe entstehen. Umso wichtiger sei jetzt, »was die Koalition in Berlin im Bereich bezahlbares Wohnen daraus macht - tut sich nichts, überlässt man das eben den Parteien an den Rändern und braucht sich dann auch nicht zu wundern«. Die Entwicklung der Mieten hänge mitunter auch indirekt mit sinkenden Geburtenraten zusammen. »Wenn ich keine größere Wohnung finde oder sie mir nicht leisten kann, überleg' ich mir zweimal, ein Kind in die Welt zu setzen. Oder zwei. Eigentum ist ja heute für viele Teile der Bevölkerung Utopie«, sagt Roth. Wer über 40 Jahre 40 Prozent und mehr seines Nettolohns für Miete ausgeben muss, dem droht doch zwangsläufig die Altersarmut. Da lässt sich nichts ansparen. Das gilt nicht nur für Singles und Teilzeitbeschäftigte.
»Bezahlbarer Wohnraum ist wichtig. Fehlt der, wählen die Leute extrem«
Der DMB mache seit 20 Jahren auf die Problematik aufmerksam. Doch der Druck werde größer. Das Thema berge sozialen Sprengstoff, warnt er: »Gibt es keinen bezahlbaren Wohnraum, wählen die Leute extrem.« Der Mieterbund könne als außerparlamentarische Opposition politische Fehl-Entwicklungen nicht korrigieren - »aber unsere Mitglieder beraten und dadurch zu schützen versuchen«.

Hoffnung gibt ihm in seinem Zuständigkeitsbereich, dass Reutlingen mit der GWG »schön preisdämpfend reingeht«. Unter der neuen Führung von Heiko Kasten und Lars Grüttner zusammen mit OB Thomas Keck - Roths langjähriger Vorgänger - und Baubürgermeisterin Angela Weiskopf entwickle sich die städtische Wohnbaugesellschaft mit ihrer hohen Eigenkapitalquote und den rund 11.000 verwalteten Wohneinheiten »absolut positiv«.
In Tübingen sind im Vergleich nur knapp 2.000 Wohnungen in kommunaler Hand. Doch bestehe dort eine Kooperation zum Thema Mietwucher: »In Fällen, die bei Neuvermietungen 20 bis 50 Prozent überm Mietspiegel Objekte anbieten, stehen wir der Stadt konsultierend mit einem Anwalt zur Seite.« OB Boris Palmer und seine Verwaltung gingen da gut voran. Auch Kommunen wie Metzingen investieren mit Mietspiegeln »viel Geld, um Transparenz herzustellen«, lobt er.
»Indexmieten sollte man zumindest ein bisschen inflationssicherer gestalten«
In Tübingen griffen Vermieter jüngst vermehrt auf sogenannte Index-Mieten zurück, berichtet Marc Roth. Zunächst mal sei es »völlig legal«, die Mietforderung an den Verbraucherpreisindex (VPI) zu koppeln. Und entsprechend alle zwei Jahre zu erhöhen. »Vor 2019 waren wir allerdings auch noch sehr inflationsstabil.« Durch Corona und den Ukraine-Krieg hatten wir 2022/2023 Inflationsraten von sieben und sechs Prozent, was zu entsprechend starken Mietsteigerungen führte. Die Preissteigerungen wirken sich als »nachgelagerte Effekte« aus - auch ausgelöst durch den Energiepreisschock im Rahmen des Ukrainekrieges. »All das verteuert meine Miete.« Das könne eine Mietpreis-Steigerung von 24 Prozent in sechs Jahren bedeuten - und zur existenzbedrohenden Spirale werden. Deshalb müsste man diese Vertragsform »inflationssicherer gestalten«. Schließlich wäre es auch für die Volkswirtschaft gut, »die Mieten auf einem Niveau zu halten, dass auch bei Arbeitern und Angestellten am Ende des Monats noch etwas übrig ist«.
»Da kommt noch einiges auf uns zu«, befürchtet der DMB-Geschäftsführer. Aktuell seien nur erste Auswirkungen der Agenda 2010 zu spüren, bei der mitunter die Durchschnittslöhne stark gedrückt wurden. Diese Generation geht nun in die Rente. »Mieter haben aufgrund des knappen Angebots an Wohnraum keine starke Stellung. Ein neues Auto zu kaufen, kann ich im Notfall aufschieben und stattdessen ÖPNV nutzen. Aber zu einer Wohnung gibt es keine Alternative.« Deshalb legt der Mieterbund Reutlingen-Tübingen, dessen Gebiet sich von Horb bis Münsingen erstreckt und der zu den größten im Land zählt, trotz der notwendigen Digitalisierung »nach wie vor Wert auf das persönliche Gespräch«, betont der 38-Jährige. Die zu Roths Amtsantritt noch sieben und heute elf Volljuristen des Vereins »machen ein Stück weit auch psychologische Betreuung«. Flattere etwa Senioren eine Eigenbedarfskündigung vom Vermieter ins Haus, gelte es erstmal zu beruhigen: »Sie werden nicht obdachlos.«
»Wir sind außergerichtlich stark, können aber jede Eskalationsstufe mitmachen«
Da der vor 51 Jahren fusionierte Regional-DMB mit seinen fünf Beratungsstandorten in Bad Urach, Metzingen, Reutlingen, Tübingen und Rottenburg ein Mitglieds-Durchschnittsalter von 56 Jahren aufweist, würde Roth gern mehr junge Mieter gewinnen. »Die Studentenklientel ist noch zögerlich.« Aber gäbe es in jeder dritten Wohngemeinschaft ein Mitglied, hätte der Verein mehr Einblick in die zunehmende Praxis von Einzelmietverträgen für WGs. Dies löse zurzeit die früher üblichen Hauptmieter ab. Nicht nur im Hinblick auf eine Verjüngung sei die seit 1. Juli vollzogene Umstellung auf die E-Akte essenziell. »Auch die Babyboomer schätzen es, dass wir auf verschiedenen Ebenen zu erreichen sind: digital, telefonisch und persönlich«, erklärt er. »So sind wir gewappnet für die Zukunft.« Der Mieterbund sei gewissermaßen der ADAC für Mieter. Die in den 80er-Jahren gegründete eigene DMB-Rechtsschutzversicherung, die im Beitrag von jährlich 75 Euro enthalten ist, erlaube es dem Verein, »jede Eskalationsstufe mitzumachen«. Wobei der Geschäftsführer betont: »Wir legen es nicht darauf an, vor Gericht zu ziehen. Unsere Stärke ist der außergerichtliche Bereich.« (GEA)
Zahlen und Daten zum DMB Reutlingen-Tübingen
Im Geschäftsbericht legt Marc Roth als Geschäftsführer des Deutschen Mieterbunds (DMB) Reutlingen-Tübingen mit Sitz in der Unteren Gerberstraße 6 in der Hauptversammlung aktuelle Zahlen vor: Bei 630 Kündigungen aufgrund von Eigenheimerwerb, Tod oder Wegzug und 850 Neueintritten nahm die Mitgliederzahl im vergangenen Jahr um 219 - das entspricht drei Prozent - auf heute 8.115 zu. Mehr als die Hälfte der Mitglieder lebt in und um Reutlingen. Pro Woche boten zwischen Juli 2024 und Juli 2025 elf Anwälte, die jeweils als Volljuristen neben ihrer Tätigkeit in renommierten Kanzleien auf Honorarbasis für den Mieterverein tätig sind, im Schnitt 114 Beratungen pro Woche an - im Jahr knapp 6.000. Mietrechts- und Nebenkostenberatungen gibt es persönlich nach Terminvereinbarung. Jede Beratungseinheit dauert 15 bis 20 Minuten. (dia)

