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Bomben auf Reutlingen: Kinder auf der Flucht

Erika Haussecker floh im Januar 1945 von Berlin zur Tante nach Reutlingen. Unterwegs hörte die Familie vom Bombenangriff auf die Stadt. Auch Eugen Lamparter und Elisabeth Pfau blicken zurück.

Der Reutlinger Hauptbahnhof und die Bahnlinie waren immer wieder das Ziel von Bombenangriffen. Hier zu sehen sind die Schäden im
Der Reutlinger Hauptbahnhof und die Bahnlinie waren immer wieder das Ziel von Bombenangriffen. Hier zu sehen sind die Schäden im Januar 1945. Foto: Stadtarchiv Reutlingen
Der Reutlinger Hauptbahnhof und die Bahnlinie waren immer wieder das Ziel von Bombenangriffen. Hier zu sehen sind die Schäden im Januar 1945.
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

REUTLINGEN. Erika Haussecker aus Reutlingen schreibt in einer E-Mail an die GEA-Redaktion: "1942 wurde die Familie aus Berlin evakuiert. Der Vater war eingezogen worden und Mutter kam mit uns vier Kindern bei einer Tante in Kulm an der Weichsel (Westpreußen) unter. 1943 war der Russe dort gefährlich näher gerückt, wir kamen in ein Kinderheim nach Schlesien, von wo wir im Januar 1945 flüchteten. Nach ein paar Tagen in Berlin fuhren wir mit dem Zug zur Tante nach Reutlingen. Diese Fahrt dauerte zwei Nächte und drei Tage, da wir wegen der Tieffliegerangriffe immer wieder den Zug verlassen mussten. Die letzte Unterbrechung war in Plochingen, wo es hieß: ,Angriff auf Reutlingen'.

Die Sorge meiner armen Mutter war groß, ob das Ziel unserer langen Irrfahrt wohl noch stehen würde? Wir hörten, dass die Gegend um das Krankenhaus schwer getroffen worden war. Als wir endlich angekommen waren, gab es schon wieder Alarm. Bei der damaligen Bäckerei Authenried ging es diesmal in den Keller. In der Dämmerung waren wir endlich beim Haus zwischen Wiesen und Obstbäumen angekommen. Weil der Strom abgestellt war, gingen wir durch den Garten zur Terrasse und klopften an die Türe. Die Tante saß mit ihren Mädchen gemütlich im Kerzenschein beim Tee. Dass es so etwas noch gab, war für mich unfassbar. In meinem jungen Leben, ich war gerade sieben geworden, hatte ich schon zu viel Zerstörung, Leid und Chaos gesehen. Die Tante und meine Mutter teilten sich danach 6 lange Jahre Haus, Küche und Herd, bis wir endlich eine eigene Wohnung beziehen konnten."

Das einstige Kaufhaus Haux wurde im Bombenhagel am 15. Januar 1945 zerstört. Im Hintergrund ist die Reutlinger Marienkirche zu s
Das einstige Kaufhaus Haux wurde im Bombenhagel am 15. Januar 1945 zerstört. Im Hintergrund ist die Reutlinger Marienkirche zu sehen. Foto: Dohm
Das einstige Kaufhaus Haux wurde im Bombenhagel am 15. Januar 1945 zerstört. Im Hintergrund ist die Reutlinger Marienkirche zu sehen.
Foto: Dohm

Eugen Lamparter, damals sechs Jahre jung, hat seine Erinnerungen zum Thema »Schwarzer Tag für Reutlingen« handschriftlich festgehalten und dem GEA zugeschickt: »Es begann für mich am 15. Januar 1945, 11.30 Uhr, ich saß auf der Eckbank im Ladenstüble und durfte Linsen verlesen. Dann Fliegeralarm, wir rannten im Haus in unseren Gewölbekeller. Schon nach fünf Minuten hörte es sich an, wie wenn jemand Pflastersteine vom Himmel werfen würde.« Es waren »dünne Weißblechkanister« mit Phosphor und Brandbomben. Im Keller waren sie zu neunt. Sein Vater sei vom Kriegsdienst befreit, erinnert sich der heute 86-jährige Reutlinger, »da er ohne Brille keine drei Meter sah«. Jener sagte zum Soldaten Helmut, »komm, wir schauen auf der Bühne nach«, berichtet er. »Da steckte eine Brandbombe auf dem Bühnenboden.« Die hatte schon ein Loch von zwei auf zwei Metern Größe in den Bühnenboden gebrannt. Es war Vorschrift, »dass man Wasser und Sand zum Löschen auf der Bühne haben musste«. Der Soldat auf Heimaturlaub habe einen Rupfensack genommen und die Bombe auf die Straße geworfen. »Mit Wasser und Sand löschten die beiden den Brand.«

Als sie auf dem Rückweg vom Dachgeschoss zurück an der Kellertür ankamen, »geschah das Unglück«, schildert Eugen Lamparter. »Unser Haus war ein Doppelhaus 11 + 11/1. In 11/1 schlug eine schwere Sprengbombe ein und begrub uns alle unter dem Holzverschlag, der die beiden Keller trennte. Das war unser Glück, der Schutt und die ganzen Sandsteine flogen über uns hinweg und trafen die Mostfässer, eins lief aus.« Aber aus dem Nachbarkeller waren »die Schmerzensschreie von Frau Weber zu hören, die immer nach meinem Vater rief, er solle ihr doch helfen«. Inzwischen waren auch Nachbarn und Soldaten, die in der Frauenarbeitsschule im Lazarett waren, gekommen, um zu helfen.

»Für mich als Sechsjähriger war das ein schreckliches Bild«

»Für mich als Sechsjähriger war es schon ein schreckliches Bild«, gesteht er. »Sie hatten Frau Weber auf einen Fensterladen gelegt und trugen sie aus dem Keller.« Dabei sei einer ihrer Füße, der nur noch durch die Haut mit dem Bein verbunden war, abgefallen. Das sei für ihn der schlimmste Anblick gewesen. Draußen legten die Helfer die Verletzte auf einen Leiterwagen, um sie ins Lazarett zu bringen. Doch der Nachbarin waren beide Beine abgetrennt worden. »Der Transport ging bis zur AOK, dann verstarb die Gute«, schreibt der Zeitzeuge. Und: »Von den anderen, die alle verschüttet worden waren, nichts zu sehen.« Fünf Personen im Keller wurden erst nach Tagen gefunden. »Von der Frau Schmid, die an der Einschlagstelle saß, wurde nichts mehr gefunden.«

Eugen Lamparter hat einen handschriftlichen Bericht von seinen Erlebnissen zur Zeit der Bombardierung Reutlingens 1945 an die Re
Eugen Lamparter hat einen handschriftlichen Bericht von seinen Erlebnissen zur Zeit der Bombardierung Reutlingens 1945 an die Redaktion geschickt. Foto: Claudia Reicherter
Eugen Lamparter hat einen handschriftlichen Bericht von seinen Erlebnissen zur Zeit der Bombardierung Reutlingens 1945 an die Redaktion geschickt.
Foto: Claudia Reicherter

»Im Haus konnten wir nicht mehr wohnen«, fährt Lamparter fort. Die Temperatur betrug minus 15 Grad Celsius und es hatte Schnee. Da hatte seine Tante eine Idee: »Wir könnten nach Pliezhausen«, zu Frau Marstaller. »Die hatte ein großes Bauernhaus. Um 15 Uhr machten wir uns auf den Weg mit zwei Schlitten mit Teppichen und Bettdecken. Wir gingen zu Fuß Richtung Oferdingen.«

»Der Himmel über Reutlingen war feuerrot«

Dort standen die Bewohner auf der Straße und blickten in Richtung Reutlingen. »Der Himmel über Reutlingen war feuerrot. Inzwischen war es auch schon dunkel geworden.« Seine Mutter, seine Tante, die damals fünfjährige Schwester und der Sechsjährige selbst waren »ausgefroren«, schildert er. »Da sagte Frau Klara Kiefner: Ihr könnt nicht mehr weiter.« Bei ihr sei Platz. »Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen weiter nach Pliezhausen.« Aber daraus wurde nichts, schließt Eugen Lamparter seinen Bericht: »Wir blieben bei Klara bis zum Frühjahr. Inzwischen hatte Vater die Fenster mit Drahtglas abgedeckt. So kamen wir wieder heim.«

Elisabeth Pfau, damals gerade 14 geworden, rief in der Redaktion an, um ihre Erinnerungen zu teilen: Sie hat alle drei schweren Fliegerangriffe auf Reutlingen in den ersten Monaten des Jahres 1945 miterlebt. Ihre Familie lebte damals in der Heinestraße. Am 1. März kamen die amerikanischen Bomber »in vier Wellen«, berichtet sie. »Wir waren damals draußen gestanden, dann hat's schon gerauscht.« Später saßen sie im Keller und Elisabeth weiß noch, dass es zunächst »Asche geregnet« hat. Dann haben die Piloten »Rauchzeichen gesetzt« und luden ihre todbringenden Ladungen in dem damit gekennzeichneten Quadrat ab. Im Haus lebten neun Kinder und vier Erwachsene. Wie viele junge Familienväter damals galt auch ihr Vater im Krieg als vermisst. Der Hausherr jedoch war schon älter. »Ich sagte, da bleib' ich nicht«, erzählt die 94-Jährige.

Die Familie hatte Verwandte auf der Pulvermühle bei Tübingen und machte sich dorthin auf. Die Mutter fuhr mit ihrer fünfeinhalb Jahre jüngeren Schwester im Zügle von Betzingen nach Gomaringen. Diese Strecke sei noch in Betrieb gewesen. Sie mussten von dort noch etwa fünf Kilometer zu Fuß gehen. Elisabeth schulterte einen Rucksack voller Lebensmittel und Kleidung - »was man für ein paar Tage gebraucht hat« - und nahm das Fahrrad ihres Vaters. Als sie bei Ohmenhausen den Buckel hochschob, »es war ja Winter und schon abends«, drehte sie sich um und hat »über ganz Reutlingen neig'sehen, wie's da gebrannt hat«. Am folgenden Sonntag um 6 Uhr früh ging es zurück. Das weiß Elisabeth deshalb noch genau, da damals Konfirmation in Pfullingen war, wo eine ihrer Mitschülerinnen aus der Reutlinger Mittelschule konfirmiert werden sollte - »und an jenem Tag dort Bomben fielen«. Wegen des Schutzes, den der Wald bot, sei sie zurück über die Alteburg gefahren. »Als wir in Bronnweiler waren, sind wieder Flieger gekommen.« Danach sei »vom Karlsplatz bis hinaus zum Wafios kein Haus mehr gestanden«. Eine Schulkameradin hat sie damals verloren, von ihr wurde »gar nichts mehr gefunden«. Eine zweite, die in der stark beschossenen Liststraße wohnte, hatte überlebt.

»Der Bahnhof hat ausgesehen wie ein ausgehöhlter Backenzahn«

Unter den Toten aus dem Bahnhofsgebiet und dem getroffenen Bunker dort, die am Rand der aufgerissenen Straße zur Identifizierung aufgereiht lagen, sei »auch ein noch lebendes Kind gelegen«, erinnert sie sich. »Der Bahnhof hat ausgesehen wie ein ausgehöhlter Backenzahn.« Dennoch seien aus dem nach Bombentreffern überfluteten Bunker einige Menschen noch herausgekommen. Zumindest ein Bekannter von ihr aus dem Betzenried »war glaub' verletzt, ist aber davongekommen«. Zeitlebens habe er unter dem schrecklichen Erlebnis gelitten.

Oft sind sie bei Luftalarm von der Heinestraße aus auch in den mit Bänken ausgestatteten Frankonenkeller unter der Uhlandhöhe gelaufen. »Der war hinten hinter dem damaligen Kinderheim nur abgestützt«, berichtet sie, »sonst war dort der blanke Schiefer, an dem das Wasser hinablief. Aber dadurch war dort die Luft besser als vorn, wo alles mit Holz verschalt war.« Einmal hat sie dabei »von Weitem Donner gehört. Da ist Pforzheim bombardiert worden.«

Das damalige Rathaus am Marktplatz von Reutlingen Anfang 1945 in Trümmern.
Das damalige Rathaus am Marktplatz von Reutlingen Anfang 1945 in Trümmern. Foto: Stadtarchiv
Das damalige Rathaus am Marktplatz von Reutlingen Anfang 1945 in Trümmern.
Foto: Stadtarchiv

Bereits vor den schweren Luftangriffen auf Reutlingen - der erste war im März 1944, vorrangig auf Betzingen - wurde Elisabeth als Teenager mit dem Krieg konfrontiert, denn in der Hindenburgkaserne war ein Lazarett, in dem verletzte Wehrmachtssoldaten behandelt wurden. »Viele waren aus Russland mit Erfrierungen zurückgekommen«, berichtet sie. Während es Vollmilch nur gegen die Abgabe von Lebensmittelmarken gab, »hat man Magermilch noch so gekriegt«. Die habe ihre Mutter mit Mehl angedickt und geschlagen, Zucker oder Süßstoff hinzugefügt, »für a bissle Geschmack«. Dies oder Pudding hat sie als Kind dann den verletzten Soldaten gebracht. »Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat«, meint sie. Auch sie erinnert sich daran, wie sie manchmal im Zug saß, als der beschossen wurde. »Da kann man gar nichts machen.«

"Ich denke immer, die heutigen Generationen wissen gar nicht mehr, was Krieg bedeutet", sagt die 94-Jährige. Deshalb hat sie jüngst ihrer Urenkelin alles erzählt. "Die hat daraus einen 30-Seiten-Bericht für die Schule gemacht. (GEA)